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Diktatur der grauen Theorie
Brief aus Deutschland
Die braunen Wissenschaftler winseln zwar
demütig unter der Fuchtel des Nationalsozialismus, sie verraten für das
tägliche Brot glatt und widerstandslos ihre Überzeugungen, und viele
finden doch keine Anerkennung und Gnade. Die »Säuberungsaktionen« an
den Universitäten und in den wissenschaftlichen Instituten werden
weitergeführt, und die Entrechtung der Gelehrten, der Forscher wird
vollständig.
Am sichtbarsten und auffallendsten ist die Aktion gegen das
Kaiser-Wilhelm-Institut, diese größte wissenschaftliche Gesellschaft
Deutschlands, die mit ihren zweiunddreißig Forschungsinstituten auch bei
der Kriegsvorbereitung eine bedeutende Rolle spielt.
Die Offensive begann mit mehr oder weniger versteckten Angriffen gegen Max
Planck, den bisherigen Präsidenten der Gesellschaft. Diesen weltbekannten
Wissenschaftler, der die ersten Grundlagen zur Quantentheorie gelegt und
damit den Zugang in die Welt der Atome und Moleküle eröffnete, durfte »Das
Schwarze Korps« als »Gesinnungsjuden« bezeichnen; er wurde gleichzeitig
mit Sommerfeld und seinem Schüler, dem Nobelpreisträger Professor Werner
Heisenberg, Professor der Theoretischen Physik in Leipzig, angegriffen,
der als der »Ossietzky der Physik« bezeichnet wurde.
Die Angriffe sprachen von der »Diktatur der grauen Theorie«, die gestürzt
werden müsse. Zu diesen Ausfällen gab der Obernazi-Physiker, Professor
Johannes Stark, der Präsident der Physikalisch-technischen Reichsanstalt,
seine bestätigende Unterschrift.
Das neue Schlagwort »Gegen die Diktatur der grauen Theorie« hat natürlich
seine tiefere Bedeutung. Es soll die wissenschaftliche Erkenntnis, daß
bestimmte phantastische und sinnlose Kriegspläne undurchführbar sind,
unterdrücken.
Aber die Machthaber des Dritten Reiches begnügten sich nicht mit »theoretischen«
Angriffen - sie schritten schnell zur »praktischen« Tat: die Satzungen
der »Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften«
wurden geändert. Geheimrat Planck, der bisherige Präsident, mußte von
seinem Amt zurücktreten. Dieser Rücktritt wurde versüßt mit seiner
Ernennung zum »Ehrensenator«, dem aber nur eine rein repräsentative,
passive Rolle zukommt.
Der neue Präsident? Wahrhaftig: er ist kein Mann der »grauen Theorie«.
- Den höchsten Posten, den die deutsche Wissenschaft zu vergeben hat,
wird Carl Bosch einnehmen, der Vorsitzende des Aufsichtsrates und
Verwaltungsrates der IG-Farben-Industrie!
Die IG-Farben werden überhaupt eine hervorragende Rolle in der
umgestalteten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft spielen: von dem abgesetzten
alten Senat werden die hohen Angestellten der IG-Farben in den neuen hinübergerettet;
so Professor Hörlein und Professor Eugen Fischer, Leiter des
Kohlenforschungsinstituts in Mühlheim, dessen enge Bindung mit den
IG-Farben bekannt ist. Im neuen Senat wird außerdem noch Professor
Krauch, Direktor der Leunawerke, Platz nehmen.
Und wer wird sonst noch würdig befunden, ins höchste Gremium der
deutschen Wissenschaft berufen zu werden? Generaldirektor Dr. Vögler von
den Vereinigten Stahlwerken, Dr. von Schröder, der sich um die
Wissenschaft das Verdienst erwarb, Herrn von Papen mit Hitler
zusammengebracht zu haben; dann der Kanonenkönig Krupp, ferner der berüchtigte
»Prinz Auwi«, Herr Dr. Thyssen, Herr Dr. Schacht (wenn er nicht
inzwischen ausgebootet wird), der Herzog von Koburg, General der
Artillerie Professor Dr. Becker.
O nein: das sind keine »Männer der grauen Theorie« - das sind die »Wissenschaftler«
der blutigen Praxis!*
1937
* Der Text wurde dem Band entnommen: Maria
Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und
Berichte. Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag 1985
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