Leonore Niessen-Deiters
1879-1939

Aufzeichnungen zum Beginn des 1. Weltkriegs

1. August 1914, 3 Uhr

Genau heute vor 8 Tagen schrieb ich dir einen leichten lustigen kleinen Brief u. datierte ihn irrtümlich mit dem 26ten. Ich merkte es, sah, dass es erst der 25te Juli war, fand’s aber zu belanglos und schob das Billettchen in’s Couvert. [1]

Noch nicht 12 Stunden später hätt ich dir so nicht mehr geschrieben. Noch nicht 12 Stunden später stand hier alles auf dem Kopf wegen des österreichisch serbischen Kriegs. Und heute steht uns selbst der Krieg bevor – jede Stunde wird die Mobilmachung erwartet. Russland hat seiner zweideutigen Haltung die schmählichste Spitze aufgesetzt, es macht mobil in dem gleichen Augenblick, in dem der Zar mit dem Kaiser Friedensverhandlungen führt! Hier merkt man nicht so viel von der patriotischen Begeisterung, die in den Hauptstädten vermeldet wird. Man ist nicht ängstlich, aber man ist ruhig, ernst. Die Studenten haben zwar die Woche über patriotische Kundgebungen veranstaltet, aber mit Semesterschluss sind nicht alle mehr in Bonn u. was noch hier war, ist gestern abgereist, um gegebenenfalls vor dem Ausrücken noch einmal die Angehörigen zu sehen. So fand die Erklärung, dass das Land in Kriegszustand versetzt sei, zwar tausende auf den Füssen, aber es wurde wenig Lärm gehört. Am Bahnhof freilich ging’s in den Abendstunden heiss her, bei der Menge von Menschen, die vor dem erwarteten Kriegsausbruch noch nach Hause kommen wollen. Und an der Rheinbrücke staute sich viel Volk um den ungewohnten Anblick, die Brücke von kriegsmässig ausgerüstetem Militär überwacht zu finden, das kein Fahrzeug undurchsucht u. unbewacht passieren lässt: leer, Soldaten auf den Tritten, werden die Fahrzeuge durchgelassen; die Insassen traben hinter drein. Die Telegrafenämter und Lebensmittelhändler sind bestürmt, – Lebensmittel sind fast ausverkauft, weil jeder sich vor der drohenden Teuerung noch etwas verproviantieren will.

Um 12 Uhr heute mittag läuft die Frist ab, d. Deutschland Russland zur Erklärung gegeben hat. Schon um Mittag standen dichte Menschenmengen vor dem Gebäude des Bonner Generalanzeigers – aus allen Kreisen, Männlein u. Weiblein. Alles wartet ernst, gespannt auf den Ausgang – auf Nachricht. Die furchtbare Spannung hat eigentlich nachgelassen – kein Mensch erwartet ernstlich mehr eine friedliche Lösung, jeder macht sich mit dem Gedanken an das Furchtbare vertraut, das kommen wird. Aber man hat die Empfindung der atemlosen Stille vor dem Sturm.

2. August

Gestern Nachmittag ist die Mobilmachung des Heers und der Flotte befohlen worden. –

Es hielt einen gestern nicht im Hause. Trotzdem nicht zu erwarten stand, dass eine Erklärung von Berlin vor den späteren Nachmittagsstunden bekannt werden würde, ging man in die Stadt u. wartete in der Nähe des Zeitungsgebäudes geduldig stundenlang. Eine kleine Stadt wie Bonn kann natürlich nicht die Menschenmengen auf die Beine bringen, zumal ja eben die grössere Anzahl der Studenten schon fort ist. Umso eher sah man den Einzelnen – und das Einzelschicksal auch. Wir fanden uns zusammen mit einer alten Geheimrätin, die drei Jungens hergeben muss, 2 Offiziere zur See und einen Gefreiten bei der Landarmee. Sie hat 70-71 in der Erinnerung, weiss, was Krieg ist. Eine Malerin neben mir erzählt mir von einem Bekannten, der am Morgen geheiratet hat, um sich dann sogleich zu stellen. Die alte Dame, die ein krankes Bein hat, steht abwechselnd und sitzt auf dem Gestänge einer Rasenabsperrung. Nach einer Weile kommt ihre einzige Tochter mit dem jüngsten Sohn, der eben sein Physikum gebaut hat und nun mit muss. Der Junge ist froh u. ruhig, das Mädel tapfer; auch die alte Dame hält sich wacker. Fortwährend wechseln die Menschen vor uns, um uns. Es dauert Stunden. Nichts kommt, ausser einer einzigen – obendrein unrichtigen Nachricht: Die russische Antwort sei nun in Berlin. Kölner Zeitungen werden verkauft – die Abendausgaben – u. gehen von Hand zu Hand. Nichts neues. In einem Cafe in der Nähe spielt eine Kapelle nationale Lieder, drinnen wird auch gesungen, aber es beteiligt sich auf der Strasse kein Mensch. Man empfindet das Geräusch eher peinlich in dieser immer sich verstärkenden furchtbaren Spannung. Hat Russland überhaupt geantwortet? Was hat es geantwortet? Was wird der Kaiser beschliessen? – Die Stimmung geht langsam dahin, dass einem die vordem heiss ersehnte Friedensnachricht fast enttäuschen würde, obwohl sich wohl bis in die untersten Schichten kaum ein Mensch darüber täuscht was uns erwartet.

Ein Herr aus unsrer Gruppe geht, um sich etwas Bewegung zu machen. Plötzlich kommt er zurück, erregt: Ein Telegrafenbeamter hätte ihm soeben gesagt, es sei die Depesche eingelaufen – Mobilmachung. Ein Arbeiter drängt herzu: Wie? Mobilmachung! ruft ihm einer zu. Er kratzt sich hinterm Ohr: Dunnerlitzchen, do muss ech övvermorje auch fott – lacht aber gleich drauf: Is auch ejal. Denn loss! Trotzdem warten wir noch alle – Es kann ja ein Irrtum sein, ein Missverständnis.

Aber plötzlich kommt rapide Bewegung in die Massen. Ich klettre auf die Rasenabsperrung – sehe drüben an der Treppe des Zeitungsgebäudes eine graue Kriegsuniform – ein lachendes Gesicht mit offnem Mund – im selben Augenblick fliegen in den vordersten Reihen die Hüte und Mützen herunter. Eine Gestalt erscheint im Eingang der Zeitung, einen Pack über dem Kopf schwingend – ein Regen weisser Blätter flattert in die dicht gekeilte Menge. Dann ein dreimaliges brausendes Hurrah – !!

Kein Lied. Ernst und ruhig gehen die Leute auseinander. Als ich mich umdrehe, sehe ich das Gesicht der alten Dame thränenüberströmt. Die jungen Leute schwenken die Hüte – rufen später kommenden zu: Mobil! Der Platz leert sich sehr langsam, – aber trotz des schicksalschweren Worts geht man fast erleichtert: Die Spannung, diese grässliche Spannung ist doch gelöst! Man weiss wie ernst es wird, aber man weiss doch wenigstens woran man ist. Man sieht Thränen in Frauenaugen, aber man hört kein Widerwort. Alles fügt sich gefasst in’s Unvermeidliche. Die jungen Leute namentlich der besseren Stände sind froh bereit. In der Husarenkaserne ist nicht mehr Unruhe wie sonst, obwohl man sagt, dass das Regiment in 6 Stunden schon ausrückt. Soldaten sieht man nur noch in grauer Felduniform. Autos jagen in allen Richtungen, – mit Militär, mit Polizeiordonanzen, mit jungen Leuten, die sich stellen müssen. Wir bummeln durch die Strassen mit einem jungen Juristen: als ich ihn das letzte Mal sah, sprach der nur von seiner Braut. Heute spricht er nur von Deutschland. Es ist ihm selbstverständlich dass man sich schlägt. Wir begegnen einem jungen Oberlehrerehepaar. Der Mann ist Couleurbruder des jungen Juristen. Er muss am dritten Tag bei seinem Regiment sein und die junge Frau muss mit einem kleinen Kinde zurückbleiben. Sie schickt ihren Mann und 3 Brüder ins Feld u. ist eine ganz junge kleine Frau: aber keine Thräne. Sie sagt nur sie möchte lieber selbst mit statt zu warten. Und das ist was man als Frau dabei empfindet. Es ist so viel, viel schwerer, das untätige Warten!

Am Abend kommt Begeisterung in die Mengen. Es kommen die Lieder. Vor allem die Wacht am Rhein. Auf der „Kaiserhalle“ wird die Begeisterung mit vielem kühlem Biere angefeuchtet – aber man gönnt es den Jungen, dass sie trinken und singen und voll fröhlicher Zuversicht sind! Der liebe Gott weiss was ihnen bevorsteht. Es ist keine Alkoholbegeisterung. Dazu ist der Ernst der Dinge zu offensichtlich. – Wann musst Du ausrücken? – Ich habe mich eben gestellt, bei den Husaren. – Morgen früh fahre ich ! – So schwirrt das zwischen Liedern und Rufen hin. Jemand liest ein Telegramm vor: Japan mache Russland Schwierigkeiten. Brausender Applaus! Es ist kaum wahrscheinlich dass die Nachricht wahr ist – aber die Stimmung hebt sich bei dem blossen Gedanken. Das wackre Mädel u. der jüngste der alten Geheimrätin begleiten uns nach Hause – dieser liebe junge Bursch sagt fröhlich : Auf Wiedersehen! –

Ich denke an dich voller Ernst. Was will unser Einzelschicksal noch in dieser Flut besagen. –

2. August, nachmittags

Sogar der Landsturm ist aufgeboten, vom 17. bis zum 45. Jahre muss sich alles melden. Also möglicherweise – alle beide – Und sein Herz nach 2 Seiten zerrissen fühlen u. nach beiden Seiten gleich ehrlich. Nur dass man da liebt wo man Kamerad sein sollte und da Kamerad ist wo man lieben soll. Man kann sich nicht selbst belügen in solchen Tagen. –Es ist Schicksal; Unglück. Nicht Schuld. Dem Kameraden sage ich nichts. Warum ihm Kummer machen. Das muss nun ruhig getragen sein. Ob ich dich jemals wiedersehe? Wie unnatürlich das alles wird ehe es von Herz und Kopf in die Feder kommt. –

Mein Bruder wird sich auch melden müssen.

Und meine Arbeit – Wer mag jetzt Geschichten lesen. Kann man glauben, dass vor 10 Tagen die Welt noch ruhig war?

5. August 1914

3 Tage – so lang wie 3 Wochen. – Vorgestern morgen habe ich mir selbst gesagt: wenn man jetzt nicht bald von Italien hört, dann ist so, dass Italien uns im Stiche lässt u. England uns angreift. Inzwischen hat Frankreich deutsches Gebiet betreten, wir sind in Luxemburg u. Belgien eingerückt – heute erklärt England uns den Krieg. Von Italien bis heute Vormittag nichts bestimmtes; wird uns wohl vollkommen im Stich lassen. Wir sind von Feinden rings umstellt u. von allen Freunden verlassen, – der Brand ist da, Europa frisst sich gegenseitig auf – oder alle brechen auf Deutschland-Österreich herein. Gestern Reichstag: einstimmige Bewilligung aller Forderungen natürlich; auch die Sozialdemokratie erklärt sich solidarisch mit Kaiser u. Reich. Der Kaiser hat der Thronrede einige persönliche Worte zugefügt, des Inhalts, dass die Führer aller Parteien ihm mit Handschlag bekräftigen mögen, mit Reich u. Kaiser durch dick und dünn, durch Not u. Tod zu gehen. Das wird ja nun bis zum weitesten notwendig werden; wir werden die Menschen in diesem furchtbaren Kampf in Millionen und das Volksvermögen nach Milliarden verlieren. – Halb Europa gegen uns u. niemand für uns ! Und wann – wann kann u. wird das enden !

Alles meldet sich freiwillig zu den Fahnen, es ist unmöglich alle abzufertigen. Meines Mannes Bruder steht schon bei den Kürassieren, mein Mann meldet sich übermorgen. Es herrscht eine brennende Begeisterung – die Truppen, die in langen Güterzügen ununterbrochen durch Bonn kommen, sind trotz der ungeheuren Not in strahlender Stimmung. Es gibt keine Parteien im Lande. O dass nur nun ein Bismarck erstände ! Unser schönes schönes Land !

Man denkt überhaupt nicht mehr an sich selbst. Man denkt nur noch wo u. wie man selber etwas tun könnte.

Die Ordnung u. Ruhe u. Schnelligkeit, mit der alles vor sich geht ist bewundernswert. Wenn wir erliegen, erliegen wir nur der 2-3 fachen Übermacht. Ich habe kein so sehr grosses Vertrauen zu Österreich – aber man muss sehen. – In Brüssel hat es wilde Kundgebungen gegen Deutschland gegeben. –

Wo in der Welt magst du nun sein –

5. August, nachmittags

Draussen ziehen Truppen vorbei. Reservisten. Mein Mann ist in die Stadt gegangen – um Nachrichten. Ich gestehe, das Herz ist mir bitter schwer um unser liebes Land. Die Übermacht ist zu gross. Was können wir allerbesten Falls erreichen, als zerfetzt u. zerschlagen Frieden zu machen. Seit Englands Kriegserklärung u. der mehr als zweideutigen Haltung Italiens kann ich an Sieg nicht mehr glauben – auch der schärfste Terrier kommt schliesslich nicht auf gegen einen Fleischerhund. Unser offen eingestandner Bruch des Völkerrechts, der Einfall durch Belgien beraubt uns, so unvermeidlich er war, beraubt uns draussen der letzten Sympatien u. giebt Italien den Schein des Rechts für seine Untreue. – Truppen u. Bevölkerung sind nach wie vor voller Begeisterung – heute beispielsweise macht ein Jäger, um im Lande Truppen zu sparen, den Vorschlag, Männer zwischen 45 und 60, die im Privatleben Jäger sind, samt ihren Flinten zur Bewachung der Bahnen heran zu ziehen. Und so fort. Leicht kriegen sie uns nicht klein. Aber es sind zu viele und England ist zu reich. Ich spreche das nicht aus, alles das nicht. Zum ersten mal seit vielen Jahren dacht’ ich heute, ich möchte, ich konnte an einen „lieben Gott“ glauben wie in meinen Kindertagen. Und zu ihm beten, dass er uns die tiefste Demütigung erspart. – Moralisch könnte unser Volk einen Stoss vertragen. Wir fuhren auf falscher Bahn, mit all unsern Verbeugungen vor Geld u. Pfaffen. Aber nicht so viel – nicht so viel. –

Wärst du eine Stunde hier, ich glaube ich lernte mehr Zuversicht. Mein armer Kamerad kann mir die nicht verschaffen, trotz all seiner frohen Bereitschaft. Und in meiner Familie gibt es durch den Krieg zu viel nackte Sorge. – Man verschliesst all das in seiner Brust; nach aussen tut man froh. – Ich habe das kleine Photo angesehen von uns beiden. Ist es möglich, dass die Welt einmal so schön war – ?

Den 8. August

Ununterbrochene Truppendurchzüge. Italien hat seine Neutralität erklärt. Nun geht es auf den letzten Mann und den letzten Blutstropfen. Gestern haben unsere Truppen Lüttich genommen. Es ist das keine grosse Waffentat, denn die Festung war ja nicht kriegsmässig besetzt. ( Irrtum, das war sie wohl!) [hinzugefügte Randbemerkung] Aber es ist ein grosser Vorteil. Ein Stützpunkt, der das Maasstal beherrscht. Der erste Zusammenprall kommt zudem nicht auf’s Rheinland, sondern auf Belgien. Hat man bei sich selbst noch Bedenken gegen den unvermeidlichen Völkerrechtsbruch gegen Belgien gehabt, so verschwindet das den empörenden Rohheiten gegenüber, die allenthalben gegen die Deutschen in Belgien verübt worden sind. In Frankreich ist es nicht besser. In England dagegen sind unsere Leute durchaus gentlemanlike behandelt worden. Holland u. d. Schweiz nehmen freundliche Stellung, innerhalb ihrer Neutralität. In Russland, in Tschenstochau, werden unsere Truppen vorläufig von der polnischen Bevölkerung freudig begrüsst! Ein seltsamer Empfang in Feindesland! – [...]

In dem Augenblick, in dem ich dies schreibe, hört man einmal kein marschierendes Militär, keine Züge. Ein paar spielende Kinder rufen, – ich sehe in grüne Gärten, Glocken läuten den Sonntag ein. Man könnte denken, man hätte wüst geträumt. Aber des Nachts schlafe ich nicht. Im Dunkel steht die ganze furchtbare Not unsres lieben Vaterlands vor der Seele – und dass man ein Weib ist – und untätig hier sitzen muss. Krieg ist ein Wahnsinn, ein furchtbarer Wahnsinn. Aber wenn es schon sein muss – dann doch zehn mal lieber mitten drin als daheim hocken u. warten ! – Mein Mann hat sich heute morgen gemeldet; ob er genommen wird weiss ich noch nicht. Man hat sehr viel Leute, noch; der Andrang von Freiwilligen ist ungeheuer. – Leicht kriegen sie uns nicht, trotz der riesigen Übermacht ! Es ist wundervoll anzusehen, wie sich in der Stunde der Not alles, was deutsch heisst, ohne Unterschied zusammenschliesst. Endlich wieder von der Maass bis an die Memel, von der Donau bis zum Belt ! – Das kann – kann – kann doch nicht alles zugrunde gehen ! –

Ich habe diese Aufzeichnungen für dich begonnen. Nun werden sie wohl ein Tagebuch werden. Wo bleibt der Einzelne in diesen gewaltigen, diesen ungeheuren Geschehnissen – . Zuweilen taucht eine Mondscheinnacht vor mir auf; eine erhabne ruhige Seefläche ringsum – wir beide sehen schweigend in die Nacht heraus – in die heisse stille Nacht. Und man hört nur das Bugwasser anschlagen. Aber das scheint 500 Jahre her zu sein.

9. August, Sonntag

Heute ist es ganz still – sonnig u. still, als ob die Welt noch bei Vernunft wäre. – Es liegt noch Militär in der Stadt, aber es kommen z. Z. keine Truppendurchzüge mehr. Die Deutschen, die aus Belgien kommen, erzählen Dinge, die an den 30jährigen Krieg erinnern: Mein Mann war gestern in Köln, wo seine Angehörigen sich einiger Frauen und Kinder annahmen. Ein Kind war tot, ehe es zur Wohnung gebracht werden konnte – die Leute sind beraubt, ausgeplündert, misshandelt. Unsre Verwundeten werden in kannibalischer Weise verstümmelt, wenn sie hilflos daliegen ! O Kultur des 20. Jahrhunderts ! Gnade Gott dem Rheinland, wenn unsre Truppen zurückgeschlagen werden! –

Vielleicht ist aber doch Sinn in diesem Wahnsinn. Freilich ein Sinn, der über den Geschehnissen waltet. Die Zeit der europäischen Politik löst sich auf in Mord und Brand – Weltpolitik tritt an ihre Stelle. – Der Mensch hat die Tierwelt mehr u. mehr überall verdrängt; die Epoche hebt an, wo der Mensch den Menschen verdrängt – der Kampf um die Welt hebt an! Und wir erleben den ersten Anfang davon –

Dass England mit Russland u. Frankreich gegen uns kämpft, kann ich nicht verwinden. Es ist eine Schande. Es ist so widernatürlich, dass man die Empfindung hat: das ist auch für England ein Grundfehler. England u. wir sind Brüder u. Rivalen: dass wir gegenseitig die Klingen kreuzten, wäre nicht unnatürlich. Aber diese Konstellation ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Natur.

Ich kann an einen endgültigen Sieg der unsern nicht glauben, weil unsre Flotte zu klein u. die Übermacht zu Land ebenfalls zu groß ist auf den Gegenseiten. Leicht kriegt man uns nicht, aber viele Hunde sind des Hasen Tod. Halten wir uns indess trotz allem, so müsste die Weltkonstellation so werden, dass wir uns mit Nordamerika gegen England u. Japan zusammen schliessen müssten: das wäre für England wiederum eine Verirrung. – Aber das sind die müssigen Gedanken eines Outsiders. [...]

Von meinen Geschwistern in Südamerika habe ich keinerlei Nachricht und es ist z. Z. schwer, Nachricht an sie gehen zu lassen. Welch ein Zustand: Keinerlei Verkehr mehr zwischen den Grossmächten Europas! Die Wasserwege mit Minen gesperrt, Brücken und Eisenbahnen von den Bombenwürfen der Flieger bedroht; – der zivilisierteste Erdteil reißt in blinder Wut zusammen, was er in langen Jahrzehnten angestrengter Arbeit aufgebaut hat ! Es ist, als ob die Völker zu tollen Hunden geworden wären!

11. August

Es ist unmöglich allen laufenden Ereignissen zu folgen – einmal, weil der Nachrichtendienst an sich so erschwert ist, dass wir von der Aussenwelt überhaupt fast nichts hören, dann, weil unsre Heeresleitung aus Vernunftgründen sehr schweigsam ist u. schliesslich weil im ersten Stadium der Dinge zu viel gelogen wird. Am 7. fiel Lüttich – am 8. und 9. bringen belg. u. engl. Telegramme, dass noch nicht einmal die Forts besetzt seien! U. s. fort. Vom Osten kommende Nachrichten sind auch schwer richtig unterzubringen. Man wird die grossen Ereignisse abwarten müssen. Inzwischen erfreut man sich an Einzelheiten, die für den Gang dieser grossen Ereignisse nicht viel bedeuten, doch dem herrschenden Geist in Truppe u. Marine ihr Zeugnis ausstellen. Da ist der Bäder-Dampfer Königin Luise hingegangen u. hat in der Themsemündung (!) Minen gelegt! Natürlich ein Todesritt: ein Kreuzer u. 3 Torpedobootszerstörer wandten sich gegen das einzelne Bäderschiff und brachten es zum Sinken – Aber der Kreuzer Amphion lief dabei auf die Minen u. war in 20 Minuten verloren! Das ist so tollkühner Handstreich: ein Bäderdampfer, der mitten im englischen Wasser einen Kreuzer in die Luft sprengt, dass man es nicht glauben würde, wenn das englische Marineministerium nicht selbst die Sache veröffentlichte. Es gleicht der Tollkühnheit, mit der eine Handvoll Ulanen in das noch belgisch besetzte Lüttich sprengten, um den Kommandanten zu verhaften. [...]

Ein ungeheures Stück Geschichte spielt sich vor einem ab. Russland ist für Europa so etwas wie die Büchse der Pandora. England, das sich am meisten davor hüten müsste, seiner asiatischen Reiche halber, hilft, den Deckel der Büchse zu lüften. Was kann noch alles daraus entstehen!

Und zu der Fülle der Greuel, des Wahnsinns der Zerstörung rings leuchten diese ruhig heitern Sommertage, die uns beide, fern von schwülen Tropennächten u. fern von bitterem zerrissenen Abschiedsschmerz, auf ein par ruhige heitre Tage vereinen sollten; vor meinem Fenster blühen nun die Blumen, die für dich blühen sollten. Und ich ahne nicht einmal wo Du sein kannst.

15. August

Am 10. haben unsre Truppen bei Mühlhausen, am 11. bei Lagarde die französischen Truppen zurückgeworfen. Vom Osten hört man so wenig, dass man trotz der Verworrenheit der unamtlichen Meldungen langsam selbst des Glaubens wird, die russischen Verhältnisse seien noch übler u. korrumpierter als man bisher annahm. – Man kommt langsam wieder zu sich, die ungeheure Erregung ebbt zurück – man begreift, so furchtbar dies alles ist, so unvermeidlich ist es. Sieg oder Niederlage muss erweisen, ob das deutsche Volk fähig ist, sich „allen Gewalten zum Trotz zu erhalten.“ – O wär’ es doch !! Ich schreibe Kriegsartikel u. nähe für den Vaterländ. Frauenverein; man muß etwas tun.

Den 16. August

Der Kaiser hat sich an die Westgrenze begeben; man wird im Laufe d. Woche wohl die ersten Schlachten zu erwarten haben. – Es muss ein höheres Gesetz geben, ein Naturgesetz, dem die Völker unterstehen, dass sie treibt, während sie frei zu handeln glauben. Sonst wäre dieser Krieg ein Wahnsinn, der einen dahin bringen könnte, an allem zu verzweifeln, das die Menschheit an Edlem, Reinen oder Schönen je hervorgebracht hat – !

18. Aug.

Eine Schlappe, Geschütze verloren, Übel –


(1) Anmerkung: Leonore Niessen-Deiters lebte zu Beginn des 1. Weltkriegs als erfolgreiche Autorin mit ihrem Mann in Bonn am Rhein. Die folgenden Aufzeichnungen sind ursprünglich für Ernesto de Quesada, argentinischer Diplomat und Historiker, bestimmt, den sie auf einer Südamerika-Reise kennen und schätzen gelernt hatte. Die persönlich adressierten Aufzeichnungen wandeln sich im Verlauf des Schreibens, da der Kontakt zu de Quesada durch den Krieg abgebrochen ist, zu einem Tagebuch.

Quelle: Eigenhändiges Manuskript in gebundener Heftform, geschrieben mit Tinte, ursprünglich im Frauen-Kultur-Archiv der HHU Düsseldorf aufbewahrt, jetzt im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts.