Land und Leute in Südamerika: Stromleben I
Leichterleine los! Achtung!
Das schwere Tau klatscht aufs Wasser; der Leichter legt los. Lichter schwanken und werfen zitternde gelbe Funkenstraßen auf die dunkle Flut. Die Fallreep geht hoch. Schon erscheint ein schmaler Wasserstreif zwischen dem steilen, hohen Bug des Überseeers und dem behäbig breiten Deck des Arbeitsfahrzeugs. Die Maschinen arbeiten; der Dampfer wendet und kommt in Fahrt. Die Lichter von Montevideo werden kleiner – fallen zurück – verschwinden.
Aber es geht nicht wieder in die Unendlichkeit des Atlantik hinaus, der das Fahrzeug so lange geschaukelt hat. Der Dampfer nimmt den Kurs auf den La Plata.
An Bord steht alles im Zeichen des Aufbruchs, des Packens, des Auseinandergehens; da ist ja schon der Rio! Reisebekanntschaften flauen ab – Aequatorlieben beginnen zu verblassen. In der ersten Klasse stehen die großen Kabinen-, Hut-, Schrank- und Gott weiß was für Koffer in allen Stadien der Entwicklung bis auf die Gänge: maulaufsperrend, halbgefüllt, reisefertig, von trinkgeldhoffnungsvollen Stewards und Stewardessen geschickt umkreist ...
„Kaptän, wann kommen wir nach Buenos Aires?“ „Dann schlafen Sie, Gnädigste. – Diese Nacht.“ „Was? Diese Nacht? Dann muß man ja morgen schrecklich früh aufstehen?“ „Nehmen Sie sich nur Zeit! So schnell kommen Sie gar nicht von Bord.“
Und der ‚Kaptän’ entschwindet in die oberen Regionen. Die kleine Frau sieht ihm ärgerlich nach; was hat er denn? Unterwegs hat sie doch immer so nett mit ihm geflirtet? – Ja, kleine Gnädige; das ist nicht mehr die „große Landstraße“ draußen auf See, wo die Kapitäne es gut haben. Hier ist schon der Strom.
Sie sieht sich nach dem Doktor um, der sonst immer da war. Der Mensch packt! Alles packt! Und schließlich geht sie selber auch „packen“, sehr zum Kummer ihrer Zofe, die allein in der Hälfte der Zeit fertig sein würde. Was soll man machen? Man ist ja schon im Rio ...
Bis herunter ins Zwischendeck zieht sich die große Kramerei: die Zeit der träumerischen Seeruhe – oder auch Langeweile – ist vorbei. Alles schüttelt, klopft, faltet und rollt seine Sachen, stopft sie in Säcke, Kisten und Taschen. Frauen bemühen sich um ihre armen Habseligkeiten, müde Kinder maulen dazwischen, Männer debattieren, tauschen Absichten, Pläne und Vermutungen aus; morgen wird man ja schon in Buenos Aires sein ... Und einige schlafen auf ihren fertigen Packen in all’ der Unruhe den Schlaf der Gerechten.
Eine Frau steht an der Reeling des Ladedecks und späht auf das dunkle Wasser unterm sternklaren Himmel. Sie sagt nichts und fragt nichts, längst eingeschüchtert durch all’ das lärmende Wesen um sie herum und all’ die fremden Sprachen. Sie starrt nur angestrengt auf die Horizontlinie, da wo Luft und Wasser sich berühren, gerade wie sie es all’ diese Wochen getan haben, gerade wie auf der See, auf diesem großen, wilden Meer, vor dem sie das Grauen nie ganz los geworden ist. Und es bleibt immer das Gleiche ... Nichts schiebt sich dazwischen, nicht das leiseste dunklere Streifchen, das ein Ufer sein könnte...
Sie beugt sich vor. Der Nachtwind weht ihr die hellen Stirnhärchen ins Gesicht. Aber nein. Nur Wasser, das den Himmel, nur Himmel, der das Wasser berührt. Ein Matrose kommt vorbei. Es ist ein Holländer, der deutsch kann, ein nordisches Deutsch, das ihr fremd klingt. Aber er ist immer freundlich zu ihr gewesen. Und er war schon oft hier. Nun sagt er im Vorübergehen: „Noch nich slafen?“ Da nimmt sie sich ein Herz und fragt: „Kommt nun wohl bald der Fluß?“ „Der Fluß? O, der Rio! Auf den Rio sünd wi schon lange auf –„ Und er geht ruhig und sachlich weiter, nicht wie einer, der schwindelt oder ein Späßchen macht.
Die Frau sieht ihm einen Augenblick nach. Die Deutschen sagten das ja auch, daß man schon auf dem Strome sei. Aber die waren selber noch nie hier gewesen. Sie hatte es ihnen so wenig geglaubt, als sie geglaubt hätte, was ihr Sohn geschrieben hatte, als er das Reisegeld schickte: daß es da in dem Lande Güter gäbe – er hatte geschrieben Estancia –, die mehr als zehntausend Stück Vieh hätten. Man denke: einen Stall für zehntausend Kühe –!
Und während sie wieder in diese dunkle Endlosigkeit von Luft und Wasser starrt, füllen sich plötzlich ihre Augen mit Thränen. Sie sieht plötzlich ein liebes und trauliches Bild: ein Fluß, wie sie ihn kennt, ein Fluß, der sein silbernes Band durch heitre Täler schlingt, eingehegt von sanftgeschwungenen Hügellinien; Dörfer, hingeschmiegt zwischen grüne Wälder, Obstgärten und hügelansteigende Felder. Steile, graue Giebeldächer, die sich an Berghänge lehnen, grünumkränzte Ruinen, die nachdenklich auf die flinken Wasserwellen niederschauen und die Wälder am jenseitigen Ufer grüßen.
O, Neckar! Liebes Neckartal, weit drüben in Deutschland! Das Bugwasser rauscht gleichmäßig. Die Nacht ist lau und mondhell. Ein andrer großer Passagierdampfer kommt ihnen entgegen, mit hellerleuchteten Fenstern an allen Decks. Aber man sieht kein Land. Nirgendwo. Was für ein Land! Lieber Gott! Sind denn die Ströme hier wie anderswo die Meere?
Der Nachtwind singt langsam das Schiff in Schlaf. Auch die Frau mit dem Heimweh nach dem Silberband des Neckar. Sie schläft ein mit der Erwartung: morgen, wenn es hell ist, wird die Sache schon anders aussehen. Ufer müssen die Ströme hier schließlich doch auch haben...
Und am andern Tage, endlich, sieht sie denn ein Ufer. Aber es ist nur eins. Das andere verbirgt sich nach wie vor hartnäckig hinter dieser unendlichen Linie von Luft und Wasser...
Leuchtende, lachende Sonne auf endlosen, leise ziehenden rotgelben Stromflächen. Darauf, in allen Farben leuchtend, bunte Fahrzeuge aller Arten und aller Größen: Dampfer, Segler, Schlepper, Motorboote – vom kleinsten Flußfahrzeug bis zum imposanten Überseer, unter den Flaggen aller Länder der Welt, eine wimmelnde Welt selber, so weit man sieht. Dicht daran anschließend die fast noch wimmelndere Welt der Kais, mit ihren Kranen, Lagerhäusern, Schuppen, Hallen. Eisenbahnzüge fauchen mit grellem Pfeifen durchs Getümmel, Lastfuhrwerke mit mächtigen Gäulen, deren blankes Fell mit ihrem blanken Messinggeschirr um die Wette in der Sonne blitzt, schaffen sich Bahn. Zollhallen, Zöllner, Arbeiter, Gepäckträger, Publikum, Riesenstapel von Gepäck, Wagen, Automobile, – dahinter die endlosen Silhouetten der riesigen quirlenden Stadt, die ihr Gesicht aufmerksam dem lebenspendenden Strome zukehrt. Und über allem dieser undefinierbare Hauch des Binnenhafens, so ausdrucksvoll verschieden vom charakteristischen Salzduft der See: der Geruch von warmem, träg fließendem Süßwasser, untermischt mit dem Geruch von Teer, Kohlenrauch, Benzin und Pferden...
Die Frau aus dem Neckartal, betäubt von dem Lärm dieser ungeheuren Unrast, von der Intensität dieses gewaltigen Lebens, blickt verwirrt noch einmal zurück auf die unabsehbare Fläche dieses ungeheuren Stroms. Ganz, ganz hinten am Horizont – sind das nicht doch Türme –?! Aber die Türme haben Rauchfahnen. Es sind noch immer Schiffe. Und nun fängt sie an zu glauben, daß ihr Sohn vielleicht doch nicht geflunkert hat. Daß in einem Lande, wo es solche Ströme giebt, die Leute vielleicht auch zehntausend Kühe auf einmal haben können...
In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. XI. Jg., Heft 1/2, November 1920