Leonore Niessen-Deiters
1879-1939

Land und Leute in Südamerika: Stromleben I

Leichterleine los! Achtung!

Das schwere Tau klatscht aufs Wasser; der Leichter legt los. Lichter schwanken und werfen zitternde gelbe Funkenstraßen auf die dunkle Flut. Die Fallreep geht hoch. Schon erscheint ein schmaler Wasserstreif zwischen dem steilen, hohen Bug des Überseeers und dem behäbig breiten Deck des Arbeitsfahrzeugs. Die Maschinen arbeiten; der Dampfer wendet und kommt in Fahrt. Die Lichter von Montevideo werden kleiner – fallen zurück – verschwinden.

Aber es geht nicht wieder in die Unendlichkeit des Atlantik hinaus, der das Fahrzeug so lange geschaukelt hat. Der Dampfer nimmt den Kurs auf den La Plata.

An Bord steht alles im Zeichen des Aufbruchs, des Packens, des Auseinandergehens; da ist ja schon der Rio! Reisebekanntschaften flauen ab – Aequatorlieben beginnen zu verblassen. In der ersten Klasse stehen die großen Kabinen-, Hut-, Schrank- und Gott weiß was für Koffer in allen Stadien der Entwicklung bis auf die Gänge: maulaufsperrend, halbgefüllt, reisefertig, von trinkgeldhoffnungsvollen Stewards und Stewardessen geschickt umkreist ...

„Kaptän, wann kommen wir nach Buenos Aires?“ „Dann schlafen Sie, Gnädigste. – Diese Nacht.“ „Was? Diese Nacht? Dann muß man ja morgen schrecklich früh aufstehen?“ „Nehmen Sie sich nur Zeit! So schnell kommen Sie gar nicht von Bord.“

Und der ‚Kaptän’ entschwindet in die oberen Regionen. Die kleine Frau sieht ihm ärgerlich nach; was hat er denn? Unterwegs hat sie doch immer so nett mit ihm geflirtet? – Ja, kleine Gnädige; das ist nicht mehr die „große Landstraße“ draußen auf See, wo die Kapitäne es gut haben. Hier ist schon der Strom.

Sie sieht sich nach dem Doktor um, der sonst immer da war. Der Mensch packt! Alles packt! Und schließlich geht sie selber auch „packen“, sehr zum Kummer ihrer Zofe, die allein in der Hälfte der Zeit fertig sein würde. Was soll man machen? Man ist ja schon im Rio ...

Bis herunter ins Zwischendeck zieht sich die große Kramerei: die Zeit der träumerischen Seeruhe – oder auch Langeweile – ist vorbei. Alles schüttelt, klopft, faltet und rollt seine Sachen, stopft sie in Säcke, Kisten und Taschen. Frauen bemühen sich um ihre armen Habseligkeiten, müde Kinder maulen dazwischen, Männer debattieren, tauschen Absichten, Pläne und Vermutungen aus; morgen wird man ja schon in Buenos Aires sein ... Und einige schlafen auf ihren fertigen Packen in all’ der Unruhe den Schlaf der Gerechten.

Eine Frau steht an der Reeling des Ladedecks und späht auf das dunkle Wasser unterm sternklaren Himmel. Sie sagt nichts und fragt nichts, längst eingeschüchtert durch all’ das lärmende Wesen um sie herum und all’ die fremden Sprachen. Sie starrt nur angestrengt auf die Horizontlinie, da wo Luft und Wasser sich berühren, gerade wie sie es all’ diese Wochen getan haben, gerade wie auf der See, auf diesem großen, wilden Meer, vor dem sie das Grauen nie ganz los geworden ist. Und es bleibt immer das Gleiche ... Nichts schiebt sich dazwischen, nicht das leiseste dunklere Streifchen, das ein Ufer sein könnte...

Sie beugt sich vor. Der Nachtwind weht ihr die hellen Stirnhärchen ins Gesicht. Aber nein. Nur Wasser, das den Himmel, nur Himmel, der das Wasser berührt. Ein Matrose kommt vorbei. Es ist ein Holländer, der deutsch kann, ein nordisches Deutsch, das ihr fremd klingt. Aber er ist immer freundlich zu ihr gewesen. Und er war schon oft hier. Nun sagt er im Vorübergehen: „Noch nich slafen?“ Da nimmt sie sich ein Herz und fragt: „Kommt nun wohl bald der Fluß?“ „Der Fluß? O, der Rio! Auf den Rio sünd wi schon lange auf –„ Und er geht ruhig und sachlich weiter, nicht wie einer, der schwindelt oder ein Späßchen macht.

Die Frau sieht ihm einen Augenblick nach. Die Deutschen sagten das ja auch, daß man schon auf dem Strome sei. Aber die waren selber noch nie hier gewesen. Sie hatte es ihnen so wenig geglaubt, als sie geglaubt hätte, was ihr Sohn geschrieben hatte, als er das Reisegeld schickte: daß es da in dem Lande Güter gäbe – er hatte geschrieben Estancia –, die mehr als zehntausend Stück Vieh hätten. Man denke: einen Stall für zehntausend Kühe –!

Und während sie wieder in diese dunkle Endlosigkeit von Luft und Wasser starrt, füllen sich plötzlich ihre Augen mit Thränen. Sie sieht plötzlich ein liebes und trauliches Bild: ein Fluß, wie sie ihn kennt, ein Fluß, der sein silbernes Band durch heitre Täler schlingt, eingehegt von sanftgeschwungenen Hügellinien; Dörfer, hingeschmiegt zwischen grüne Wälder, Obstgärten und hügelansteigende Felder. Steile, graue Giebeldächer, die sich an Berghänge lehnen, grünumkränzte Ruinen, die nachdenklich auf die flinken Wasserwellen niederschauen und die Wälder am jenseitigen Ufer grüßen.

O, Neckar! Liebes Neckartal, weit drüben in Deutschland! Das Bugwasser rauscht gleichmäßig. Die Nacht ist lau und mondhell. Ein andrer großer Passagierdampfer kommt ihnen entgegen, mit hellerleuchteten Fenstern an allen Decks. Aber man sieht kein Land. Nirgendwo. Was für ein Land! Lieber Gott! Sind denn die Ströme hier wie anderswo die Meere?

Der Nachtwind singt langsam das Schiff in Schlaf. Auch die Frau mit dem Heimweh nach dem Silberband des Neckar. Sie schläft ein mit der Erwartung: morgen, wenn es hell ist, wird die Sache schon anders aussehen. Ufer müssen die Ströme hier schließlich doch auch haben...

Und am andern Tage, endlich, sieht sie denn ein Ufer. Aber es ist nur eins. Das andere verbirgt sich nach wie vor hartnäckig hinter dieser unendlichen Linie von Luft und Wasser...

Leuchtende, lachende Sonne auf endlosen, leise ziehenden rotgelben Stromflächen. Darauf, in allen Farben leuchtend, bunte Fahrzeuge aller Arten und aller Größen: Dampfer, Segler, Schlepper, Motorboote – vom kleinsten Flußfahrzeug bis zum imposanten Überseer, unter den Flaggen aller Länder der Welt, eine wimmelnde Welt selber, so weit man sieht. Dicht daran anschließend die fast noch wimmelndere Welt der Kais, mit ihren Kranen, Lagerhäusern, Schuppen, Hallen. Eisenbahnzüge fauchen mit grellem Pfeifen durchs Getümmel, Lastfuhrwerke mit mächtigen Gäulen, deren blankes Fell mit ihrem blanken Messinggeschirr um die Wette in der Sonne blitzt, schaffen sich Bahn. Zollhallen, Zöllner, Arbeiter, Gepäckträger, Publikum, Riesenstapel von Gepäck, Wagen, Automobile, – dahinter die endlosen Silhouetten der riesigen quirlenden Stadt, die ihr Gesicht aufmerksam dem lebenspendenden Strome zukehrt. Und über allem dieser undefinierbare Hauch des Binnenhafens, so ausdrucksvoll verschieden vom charakteristischen Salzduft der See: der Geruch von warmem, träg fließendem Süßwasser, untermischt mit dem Geruch von Teer, Kohlenrauch, Benzin und Pferden...

Die Frau aus dem Neckartal, betäubt von dem Lärm dieser ungeheuren Unrast, von der Intensität dieses gewaltigen Lebens, blickt verwirrt noch einmal zurück auf die unabsehbare Fläche dieses ungeheuren Stroms. Ganz, ganz hinten am Horizont – sind das nicht doch Türme –?! Aber die Türme haben Rauchfahnen. Es sind noch immer Schiffe. Und nun fängt sie an zu glauben, daß ihr Sohn vielleicht doch nicht geflunkert hat. Daß in einem Lande, wo es solche Ströme giebt, die Leute vielleicht auch zehntausend Kühe auf einmal haben können...

In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. XI. Jg., Heft 1/2, November 1920

Land und Leute in Südamerika: Stromleben II

Unglaublich seicht läuft der riesige Strom auf seine roten Toska-Ufer, da, wo zwischen dem rastlosen Lärm des Hafenlebens und dem fröhlichen Wassersport des Deltas die lange Zeile der grünen Gärten und hellen Landhäuser sich hinzieht. Vielleicht guckt man eines Abends andächtig auf diese mächtige rotgelbe Fläche, und ganz weit draussen regt sich etwas. Was mag es sein, so weit im Strom. – Aber es ist nur ein ganz kleiner Junge, der badet, und dem selbst da draussen das Wasser kaum die Schultern netzt...

Zuweilen freilich gebärdet der Strom sich auch als Ungeheuer und rollt Wellen, so lang und schaumgekrönt wie die See weit auf die zernagten grünen Ufer und man könnte Angst bekommen vor dem Zorn des Riesen, vor der ungeheuren wuchtigen Masse, die sich so rasend schnell heran wälzt. Aber – vielleicht schon am nächsten Tag – lacht er über sich selber und zieht grinsend die Lippen zurück, so dass man die nackte, braunrote Toska weit hinaus bloss liegen sieht, nur durchrieselt von dünnen Wasserinseln, und Autos oder Wagen von sonntäglichem Ausflüglern fahren zum Spass einmal da, wo sonst der flinke Fisch schwimmt.

Dass bei solchen Umständen die Stromfischerei hier, an diesem Ufer, kaum noch eine Verwandte der gefahrvollen, mühseligen und schweren Seefischerei ist, leuchtet ein. Diese Stromfischer gleichen wenig den wetterzerrissenen, rauen Wasserwölfen der Atlantikküste, und von ihren Fahrzeugen wird schwerlich gemeldet, dass sie nicht heimgekehrt seien...

Denn diese Fahrzeuge haben vier Beine, Kopf und Schwanz sind viel zu vernünftig, lebensgefährlich weit in das Element ohne Balken hinein zu gehen. Zwischen Olivos und San Isidro gibt es besonders flache Stellen, wo man diese vierbeinigen Boote an der Arbeit sehen kann, wenn der Strom normal, d. h. weder allzu hoch noch allzu niedrig steht.

An solchen Tagen rückt früh die Kolonne an. Sie bringt, über Land, die Hauptsache mit: Das richtige Netz und zwei wackere Gäule. Des weiteren kommen eine Anzahl Männer und Buben mit großen Körben, um den Fang zu bergen.

Zwei Reiter besteigen die beiden Gäule und die Tiere platschen friedfertig in die laue rotgelbe Flut hinein-platsch-platsch-gradeaus in die flimmernde leuchtende Sonnenglut. Hinter sich ziehen sie das schwere Netz. Es dauert lange, bis das Wasser dem Schimmel und dem Braunen auch nur bis an die Weichen geht und die großen Tiere erscheinen nur noch wie kleine Flecke, wenn sie es endlich bis zum Sattel und zum Halse haben. Dann sieht man die friedfertigen Reiter plötzlich wie die feindlichen Brüder von sich weichen, in entgegen gesetzter Richtung, so weit das zwischen ihnen sich ausspannende Netz es erlaubt. Dann kommt eine neue Wendung. Es geht wieder zurück, auf eine besonders flache Stelle am Ufer zu, wo ein paar hängende Weiden Schatten spenden.

Hier im Weidenschatten, auf dem grünen Rasen liegen hübsch im Trocknen die Fischer und warten der Dinge, die da kommen sollen, d. h. der Fische, die der liebe Gott (denken die Fischer) oder der Teufel (denken die Fische) just in das Bereich des Netzes schickte, das da gemächlich heranrückt. – Der Braune und der Schimmel beeilen sich nicht. Erstens liegt es nicht in ihrer Natur. Zweitens geht es sich mühsam im Wasser. Drittens ist das Netz schwer. Viertens ist es überhaupt ein Unfug sich so abzuhetzen. Die Sonne funkelt auf dem Wasser und dem feuchten Uferrasen. Die Frische des Morgens ist köstlich. Die wartenden Männer und Buben haben alle Zeit, sich zu rekeln, zu necken, auf dem Rasen zu rollen.

Drüben auf der anderen Seite eines kleinen Wassergrabens, hat sich ein Häuflein Wäscherinnen angesiedelt. Eben breiten sie die gesäuberten Linnen auf dem Rasen aus, da kommt eine Rinderfamilie daher getrottet: Vater Stier, ein paar behäbige Kuhmamas und ein paar Jungtiere. Familie Rind findet das Gras just an diesem Fleck besonders wohlschmeckend und beginnt zu raufen. Aber die Wäscherinnen wollen sie da nicht haben und vertreiben sie mit unfreundlicher Hast. Vater Stier geht, gefolgt von den Seinen, beleidigt auf die Fischer-Seite und will sich eben mit seiner Familie zwischen den Körben ansiedeln, als auch hier die Gastlichkeit in schnöder Weise verletzt wird.

Gottergeben und phlegmatisch dreht das Rindvieh ein zweites Mal um und begibt sich wieder auf die Wäscherinnenseite. Aber nun wird es, in der Mitte, von beiden Parteien angeschrieen und bleibt verdutzt stehen: kann man denn selbst bei so nachgiebiger Gemütsart nicht einmal in Ruhe frühstücken –?

Aber ehe sich die Meinungsverschiedenheiten der Wäscherinnen und der Fischer geklärt hat, springen die Männer plötzlich auf. Platsch-platsch – die Pferde kommen! Man greift zu den Körben, rennt ins Wasser. Noch sieht man zwischen den Reitern nichts als eine leicht markierte geschwungene Linie im Wasser. Aber die Fischer greifen nach dieser Linie: es ist der Netzrand, den sie nun mit den Händen hoch reißen und heranschleppen.

Nun wird das Wasser an dieser Stelle lebendig. Es wird stürmisch. Immer enger zieht sich das Netz auf dem flachen Ufer zusammen. Hier schnellt ein Kopf, ein Schwanz; der Fleck wird silbrig – quecksilbern: schnöd dem heimischen Element entzogen, plätschert, schlägt, schnellt und zappelt das – aber vergebens! – Selbst die, die sich mit einer besonderen Kraftentfaltung über den Netzrand weg ins Wasser zurück schnellen, geraten nur den Buben in die Finger, die sie packen und schleunigst wieder auf den Haufen zuckender, sterbender Genossen werfen... Es ist ein regelrechter Massenmord, der aber wie alle Ungerechtigkeiten dieser Welt, die einem selber nützlich sind, unschuldvollst übersehen zu werden pflegt...

Dann wird sortiert. Die Körbe füllen sich. (Das Rindvieh, allerseits so schlecht behandelt, hat sich derweil eine Uferstelle ohne Wäscherinnen und ohne Fischer gesucht.) Einer der Fischer hat statt des Korbs eine kleine Karre. Er füllt sie säuberlich mit den silberglitzernden kleinen Leichen und während er sein Kärrchen vergnügt davonzieht, lacht er zu den noch immer erbosten Weiber herüber und parodiert den Ausrufer:

Pescador!! – Pe-.-e-.-escado-.-o-.-r!) Pejerey! Dorado! Pescado rico – para los pobres – para los ricos – para los argentinos – para los italianos – para – para las lavanderas!

Pescado-.-or!!!

In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. Heft 3/4, Dezember 1920