Hanna Rademacher
1881 – 1979

Erinnerungen

Meine Jugend in Franken

Meine Jugend in Franken?! – Da taucht zuerst ein Haus auf, ein kleines Haus, das wir bewohnten. Hinter dem Haus war ein Garten, mit einer, großen, einem Rundbau ähnlichen Laube. Später baute mein Vater sich ein neues Haus; aber die Gärten des alten und des neuen Hauses stießen zusammen und in das alte Haus zogen Verwandte. So blieb die Verbindung bestehen. Das neue Haus war groß, viel größer als das alte. Es hatte Säulen, Freitreppen, die Wände und Decken der Zimmer waren bemalt und überall war Raum, Licht, Sonne. Und der Garten des neuen Hauses war größer und herrlicher als der des alten. Es gab Rosen in Fülle. Buschrosen und hochstämmige. Mein Vater liebte sie. Mit zärtlicher Behutsamkeit schnitt er die schönsten ab, um sie seinen Gästen zu schenken. Blutbuchen standen im Garten, Wiesen gabs, Springbrunnen, einen Sportplatz und neben dem Sportplatz eine Allee junger, zarter, gebogener Weichselbäume, die im Frühling Wolken weißer Blüten trugen.

Das Bild wäre unvollkommen, wollte ich nicht eines Hauses noch gedenken, des Stammhauses der Leuchs, der Vorfahren meines Vaters, am Obstmarkt. Es reichte vom Obstmarkt bis zum Dötschmannsplatz und das Vordergebäude war mit dem Hintergebäude durch eine der in Nürnberg üblichen Galerien verbunden. In der Mitte war ein Hof. Im Hof stand ein vergessener Steinbrunnen. Dieses Haus war nicht so licht, nicht so schön wie das Haus draußen in St. Johannis; aber es hatte einen anderen Reiz für mich: es war mit allem Raunen der Vergangenheit durchzogen. Hier hatte mein Urgroßvater gelebt, Johann Michael Leuchs. Seine Vorfahren hatten den Leuchsenhof besessen; als Abkömmling eines Bauerngeschlechtes arbeitete er sich aus eigener Kraft empor. Er hörte in Wien Vorlesungen, in Köln, Amsterdam, Brüssel, Paris und Straßburg und kehrte dann nach Nürnberg zurück. Ueber 20 000 Bände umfaßte seine große Bücherei in dem Haus am Obstmarkt. Und alle Wissenschaften waren darin vertreten. Er schrieb das System des Handels und beschäftigte sich auch mit literarischen Arbeiten. Heute gilt er als der klassische Vertreter der Handelswissenschaften. Die Universität Köln liest ein Kolleg über ihn. Seinen Sohn ließ er durch Hofmeister unterrichten. Als er 1836 starb, führte mein Großvater seine verschiedenen Unternehmungen fort. Er begründete den Verkündiger, eine Zeitschrift, die Fichte zu ihren Mitarbeitern zählte. Nach einem halben Jahr mußte er ihr Erscheinen einstellen, auf Befehl Napoleons, da sie „einen bösen Geist zeige“ und die Freiheit in die Völker trüge. Dieser Großvater hat mehr als hundert Werke technischer, kaufmännischer, ökonomischer und staatswissenschaftlicher Art verfaßt. Er war Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften. Zweimal wurden seine Arbeiten preisgekrönt. Für eine dieser Preisschriften über die Schönheit des menschlichen Körpers erhielt er die goldene Medaille von Harlem. Seinen stärksten Erfolg aber hatte er mit der Einführung des Adreßbuches von Europa. Er begründete den Generalanzeiger von Nürnberg, die spätere Nürnberger Stadtzeitung. Als er starb, führten mein Vater und seine beiden Brüder seine Arbeiten fort.

Unsere Ferien verlebten wir Kinder meist in Eschenbach bei Hersbruck. Lieblich anmutig an der Pegnitz gelegen, eingebettet in Wiesen und Wälder, war es so recht geeignet das Paradies unserer Kinderjahre zu bilden. Das Stammschloß der Freiherrn Ebner von Eschenbach steht in dem Dörfchen und hier habe ich zum ersten Mal einen Ahnensaal, Pergamentbriefe unter Glas und den Wehrgang eines Schlosses kennen gelernt. Später lernte ich dann das Stammschloß eines unserer ältesten fränkischen Adelsgeschlechter kennen, das der Freiherrn Stromer von Reichenbach in Grünsberg bei Altdorf, mit deren Nachkommen mich noch heute eine lebendige Freundschaft verbindet.

Denke ich an die zahlreiche Verwandtschaft in Nürnberg zurück, so sehe ich sie alle voll Rubensscher Weltfreudigkeit und Genußkraft, voll Eigenart und Selbstwilligkeit. Und solche, im besten Sinn der Erde zugewandte Gestalten waren es, die mir zur Seite traten, als ich den Pirkheimer schuf.

Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus München. Der König Max Josef wollte sie zur Sängerin ausbilden lassen: aber ehe ihre Ausbildung noch vollendet war, verheiratete sie sich. Neunzehnjährig. Sie sprach Latein, war voll Humor und konnte noch im Alter von 70 Jahren von aufbrausender Leidenschaft sein. Sie war eine gläubige Christin. Ich wähle absichtlich nicht das Wort Katholikin, denn ihre Söhne und Töchter heirateten in dem protestantischen Nürnberg Protestanten, und sie ist uns Enkelkindern immer eine tief fromme, nie aber eine konfessionelle Großmutter gewesen. Ihre Tochter, meine Mutter, erbte ihre vielfältigen Talente: ihre Lebensbejahung, ihre Geistigkeit, ihre Freude am Scherz; aber auch ihr Pflichtgefühl und vor allem ihre Fähigkeit, Aufschwung und Aufopferung in das Leben hineinzutragen.

Wir besuchten das Portsche Institut in Nürnberg. Wenn ich an unsern Schulweg denke, spüre ich immer noch den herben Hopfengeruch, der uns aus einer Gasse anwehte. Wenn man wollte, konnte man auch am Bratwurstglöcklein vorüber zur Schule gehn und unzertrennlich mit dem Bratwurstglöckchen ist mir das Bild eines großen Schweines verbunden, das abgebrüht da draußen vor dem Bratwurstglöcklein in einem Trog lag und in knusprige Würstchen verwandelt werden sollte.

Freundinnen hatte ich und hatte ich nicht. Drei von ihnen sind jung gestorben. Am liebsten spielte ich mit meinen Vettern. Später erst trat eine bedingungslose Hingegebenheit an Freundinnen ein. Bedingungslos in meinem Festhalten an ihnen. Ich konnte monatelang nichts von ihnen hören um ihnen doch die alte zu bleiben.

Ein kunstfreudiger Gönner unserer Stadt, Herr Oberamtsrichter Schrodt, versammelte junge Talente um sich. Dort begann meine Freundschaft mit Charlotte Westermann, der feinsinnigen Dichterin der Knabenbriefe, die eine außergewöhnliche Begabung auch auf das politische Feld rief.

Unsere Lehrer hab ich noch alle im Gedächtnis. Das stärkste Band aber umschloß mich mit einem Lehrer nach der Wahl unsres Seelsorgers Krausold: mit Dr. Schunck, der mit mir, in Eigenstunden, die Dramen der eben auftauchenden Dramatiker las. Auch griechische und römische Kulturgeschichte wurde durchgenommen, Homer gelesen, Aeschylos, Sophokles. Er brachte mir den Geist des Humanismus nahe und sein höchstes Ziel, die freie, volle Entfaltung der Persönlichkeit.

Später, in München, schloß ich eine weitere Freundschaft, der ich zu tiefem Dank verpflichtet bin, die teilnehmend und fördernd in mein Schaffen griff: die Freundschaft mit Franz Muncker, dem ordentlichen Professor der Literatur der Universität München. Mit ihm und seiner, nicht nur künstlerisch hochbedeutenden Frau, deren Heim noch jetzt einen Sammelpunkt des geistigen München bildet, machte ich Reisen ins Ausland. Doch das greift schon über Franken hinaus.

Meine besondere Liebe in Nürnberg gehörte dem Albrecht Dürerhaus und der Burg. Ich entsinne mich noch der Kaisertage in Nürnberg. Es gab ein großes Festessen im Rathaussaal. Da auch mein Vater, als Rat der Stadt, daran teilnahm, war es uns Kindern möglich, geführt von einer mitfühlenden Seele, in ein oberes Gemach des Rathauses zu gelangen, wo man von oben herab auf die Pracht sehen konnte. Mir ist noch das Lichtergeflirr der Kerzen und der Glanz der silbernen Teller erinnerlich, von denen zu Ehren des Kaisers gegessen wurde. Noch deutlicher aber entsinne ich mich des Hermelinumhanges der Kaiserin.

Er lag in diesem Gemach auf einem Stuhl. Ich fühlte ihn an und noch heute kann ich in mir das Gefühl des Staunens und der Ungläubigkeit zurückrufen, das mich überkam, darüber, daß es in meiner Macht lag, ihn anzurühren.

Am Sylvesterabend gingen wir Kinder immer mit der Mutter in die kleine Kapelle auf dem Johannisfriedhof. Schon der Gang an den Bronzeplatten der großen Toten vorüber, stimmte feierlich. Der Johannisfriedhof ist für mich der schönste Friedhof geblieben. Vor zwei Jahren sah ich ihn wieder. Die Rosen blühten. Die Vögel sangen… auf und neben dem Grab Albrecht Dürers saßen Wandervögel, Buben und Mädels, und der Himmel blaute. Da war kein Vergessen. Da war lebende Verbundenheit.

Italien, Sizilien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Frankreich und den Westen und Osten Deutschlands hab ich durchzogen. Aber schöner als alles dünkt mich der silberne Bauch Frankens, der deutsches Wesen am innigsten spiegelt.

Quelle: Undatiertes vierseitiges Typoskript aus dem Nachlass von Hanna Rademacher, ursprünglich im Frauen-Kultur-Archiv der HHU Düsseldorf aufbewahrt, jetzt im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts.