Im Gedenken an engagierte Frauen Düsseldorfs
Elisabeth Büning-Laube zum 10. Todestag

Klaus Grabenhorst: Die kleine Frau mit großem Hut

Ich war neu in dieser Stadt, von der man sagt, sie hätte die längste Theke der Welt. Mit einem Koffer voll französischer Chansons, die ich zusammen mit französischen Freunden in mein Deutsch gebracht hatte, wollte ich mich in die hiesige Kunstszene stürzen.
Ich las den Veranstaltungskalender in den Kulturseiten. Sofort sprang mir ins Auge: „Kunst-Live am Freitag, 19:30 Uhr (nur mit telefonischer Anmeldung).“ Ich griff zum Hörer. „Ein letzter Platz wäre noch zu vergeben“, erklärte mir eine resolute Stimme am anderen Ende, „Sie müssten sich nur gleich entscheiden.“ Ich ließ mich auf die Besucherliste setzen.
Knapp fünfzig Personen saßen in diesem Wohnzimmer, das dicht gefüllt war. An der einen Wand hingen Aquarelle, an der anderen sah ich Plakate aus der Literaturszene. Und ich roch den Duft von frischen Blumen. In der Küche standen Käsebrote und Getränke bereit.
Eine kleine Frau mit einem großen Hut betrat den Raum. Sie begrüßte die Gäste, setzte sich in ihren Sessel und las eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kräfte verlor, nachdem er ins Jenseits gegangen war. „Sie irrte durch einen Wald. Auf einmal bemerkte sie, wie ihr ein rot-gelbes Laubblatt in ihre ausgestreckten Hände fiel. Sie brachte es nach Hause und beim Betrachten des Blattes entdeckte sie die verschiedenen Farbtöne und Nuancen und begann zu erahnen, dass“ – und jetzt sprach die kleine Frau so leise, dass man die Worte kaum hören konnte – „auch der Herbst des Lebens manche Farbenpracht zu bieten hat“. Dann stand sie auf und kündigte die Künstler des Abends an.
In der Pause erzählte ich meinen beiden Nachbarn, dass ich zum ersten Mal hier sei und mich darüber freue, noch den letzten Platz bekommen zu haben. Sie erzählten, dass sie hier zu den Stammgästen gehören, und dass auch sie, wie jedesmal, „den letzten Platz“ bekommen hätten.
Beim Verabschieden sprach ich der kleinen Frau eine Einladung für mein nächstes Konzert aus.

Es war eine heitere Atmosphäre in dem Kellertheater in dem Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Die kleine Frau, die mit dem großen Hut aussah, als sei sie einem impressionistischen Gemälde entstiegen, saß in der ersten Reihe, kicherte, gluckste und strahlte mich an.
„Bezahlen kann ich nichts“, sagte sie nach der Vorstellung zu mir, „aber ich möchte gerne, dass Sie einen Abend in meinem Salon singen. Fragen kostet ja nichts! Als Gegengeschäft haben Sie einen Wunsch bei mir frei!“
Ich erwähnte, dass ich gerne einmal im Geburtshaus von Heinrich Heine singen würde. „Sie meinen im Künstlercafé Schnabelewopski! Das machen wir! Ich kenne den Wirt! Und nicht nur das, junger Mann! Ich werde Sie überall einführen! Allerdings bitte ich Sie, dass jedes Mal vor Ihnen ein bis zwei Lyriker ihre Gedichte vorlesen können, und – das ist ein persönliches Anliegen von mir – bitte vergessen Sie nicht, das Lied von der Margerite zu singen!“

Seither fragte sie mich jedesmal, wenn ich ein Konzert gab, bei dem sie dabei war, nach dem Chanson von der Margerite. Es erzählt von einem Pastor, dem einmal bei seiner Predigt eine Margerite aus seinem Gebetsbuch gefallen ist. Wie wankte da der heilige Ort vor Erregung! Ein Skandal! Die Gemüter kamen in Wallung: „Woher kommt das Gänseblümchen? Kam es zu ihm? Kam er zu ihr? Doch“, so heißt es im Lied, „oben im Himmel unser Herr, kümmert sich wenig um das Getuschel im Parterre“. Und nachdem sich die Gemeinde allmählich wieder beruhigt hatte, heißt es zum Schluss: „Und dass niemand, das sei meine kleine Bitte, zeige auf den Pastor und die Margerite!“

Einmal, als ich die kleine Frau mit dem großen Hut an einem warmen Sommertag zufällig auf der Straße traf, erzählte sie, dass ihr Arzt ihr geraten habe, ab und zu mal ein Bier zu trinken, sie habe zu wenig Eisen im Blut. Ich lud sie für den Abend in einen Biergarten ein und flachste, sie könne mir ja dann nebenbei ihre Lebensgeschichte erzählen. „Das werde ich!“, stieß sie begeistert aus und tippelte von dannen.

Mein Vater war Pianist, meine Mutter Sängerin“, begann sie ihre Geschichte. „Sie waren beide im Widerstand gegen Hitler. Sie kämpften unter Einsatz ihres Lebens. Ich war nicht gewollt, denn ich wurde nur gezeugt, weil die Nazis sonst meine Eltern ins KZ gesteckt hätten. Wir waren fünf Kinder. Wären meine Eltern ins KZ gekommen, hätten wir Kinder in ein Heim gemusst. Das war den Nazis zu teuer.
Wir haben damals nicht einmal Lebensmittelmarken bekommen. So musste ich schon als kleines Kind lernen, wie man sich etwas für ‚zwischen-die-Zähne‘ organisiert. Ich bin durch die Nachbarschaft gezogen und habe gesungen. Wenn ich Glück hatte, erbarmte sich jemand und gab mir ein Butterbrot. Noch heute habe ich den Geschmack von einem Butterbrot in meiner Nase.
Nach dem Krieg, im Adenauer-Staat, waren meine Eltern wieder auf der Verliererseite und mussten mit ansehen, wie die braune Pest Karriere machte.
Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Eines Nachts bin ich aus dem Fenster gehüpft und dann immer den Bahngleisen entlang gegangen. Als es hell wurde, kam ich zu einer Fabrik mit vielen Schornsteinen. Ein Pförtner in einem Häuschen packte gerade sein Butterbrot aus. Ich setzte mich zu ihm und sagte: ‚Hm, so etwas hätte ich auch gerne!‘ Er brach mir die Hälfte ab. Ich sagte: ‚Bei dir möchte ich bleiben.‘ Der Pförtner nahm mich mit nach Hause und zusammen mit seiner Frau schaffte er es, dass ich bei ihm bleiben konnte.“

Die kleine Frau mit den roten Haaren hatte inzwischen ihr Glas ausgetrunken. Ich bestellte ihr ein zweites und fragte, warum sie so gerne das Lied von der Margerite höre.
„Also, junger Mann“, fuhr sie fort, „das war, als ich zu den Nonnen kam. Wegen meiner Herkunft hieß es, ich sei des Teufels. ‚Du hast böse Gedanken, ich sehe genau, was du denkst‘, zischte die Obernonne. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich stellte mich heimlich vor einen Spiegel und schaute mich an. Dann dachte ich an etwas ganz Böses und schaute wieder in den Spiegel. Ich konnte keinen Unterschied feststellen.
Doch ich habe in all den qualvollen Jahren auch viel gelernt: Kochen, Kleider nähen, Hauswirtschaft, und: nicht zu lügen! Als die Obernonne mich auf die Prüfung vorbereitete, nahm sie mich zur Seite und sagte mit ernster Miene, dass man mich fragen werde, ob mir der Herr erschienen sei, und dann hätte ich mit ‚ja‘ zu antworten.
Vor dem Einschlafen dachte ich lange darüber nach. In der Bibel steht doch: du sollst nicht lügen! Und da mir der Herr wirklich nie erschienen war, sagte ich in der Prüfung die Wahrheit. Sie können sich vorstellen, junger Mann: meine Tage bei den Nonnen waren gezählt!“
Eine Geschichte nach der anderen sprudelte aus ihr heraus und da ich mein zweites Bier auch ausgetrunken hatte, fiel es mir immer schwerer, mir die vielen Details zu merken.
Später sei sie Krankenschwester geworden. An der Uni-Klinik. Und einmal habe sie zu dem berühmten Professor Doktor Hüsgen gesagt, er dürfe seine Mitarbeiter nicht so anschnauzen: „Das macht man nicht! Das haben die Menschen, die hier arbeiten, nicht verdient!“ Der perplexe Professor habe sie daraufhin mit nach Hause genommen und seiner Frau vorgestellt. So sei sie bei ihm Haushälterin geworden.
„Mein späterer Mann, der übrigens dreißig Jahre älter war als ich, wollte mich kurz nachdem wir uns im Schnabelewopski kennengelernt hatten, zu meinem sech­zigsten Geburtstag zum Essen einladen und anschließend mit mir eine Lesung besuchen. Aber es gab in der ganzen Stadt keine einzige Literaturveranstaltung. ‚Dann laden wir eben selber ein paar Dichter ein‘, schlug er vor. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Und alle waren der Meinung, wir sollten doch öfters solche Abende veranstalten. Und so entstand der Salon.
Als mein Mann zwei Jahre später starb, sagte er auf dem Sterbebett zu mir: ‚Schätzgen, jetzt machst du den Salon alleine weiter!‘ Wir hatten doch gerade erst geheiratet! Wir waren glücklich. Und er freute sich immer, wenn die Gäste eintrafen. Er stand da, wie ein Leuchtturm, so stolz war er. Vorher hatten wir geputzt, die Künstler ausgesucht, die Presse informiert, Einladungen verschickt, frische Blumen geholt, Butterbrote und Getränke bereitgestellt. Und immer, wenn alles fertig war, sagte er: ‚Schätzgen, und jetzt setzt du deinen Hut auf!‘
Kurz vor unserer Hochzeit, junger Mann, war noch etwas passiert! Wir waren alle in einem Hotel auf dem Land. Da erzählte mir am späten Abend eine Verwandte von ihm, dass er bei der Waffen-SS war. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wollte gerade schlafen gehen, und dann das! Ich, die Tochter aus einem Elternhaus aus dem Widerstand, heirate einen Nazi, der bei der Waffen-SS war!
Um Mitternacht stellte ich ihn zur Rede: ‚Warum hast du mir das nicht gesagt?‘ ‚Liebchen‘, antwortete er, ‚weil du mich dann nicht genommen hättest!‘
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen sollte die Hochzeit sein. Um sechs Uhr in der Früh, nach einer langen Nacht, in der er mir alles erzählt hatte, sagte ich völlig erschöpft: ‚Ich kann darüber n i c h t richten!‘ Und dann habe ich ihn geheiratet.“

Manch schönes Konzert stellte die kleine Frau seitdem mit mir auf die Beine. Und als ihr Salon vom Kulturamt offiziell anerkannt war und die ersten Fördergelder flossen, frohlockte sie „jetzt kannst du bei mir singen“ und fügte voller Stolz hinzu „für Mucken!“

Einmal lud sie mich zu ihrem Geburtstag ein. Mein bester Freund war in diesen Tagen gestorben. Ich fühlte mich nicht in der Lage, auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Sie verstand, rief mich aber zwei Tage vorher noch einmal an und bat mich inständig, zu kommen.
Ihr Salon platzte an diesem trüben Novembernachmittag aus allen Nähten. So viele Menschen hatte ich dort noch nie gesehen! Mit ihrem großen Hut saß sie in ihrem Sessel. Die Füße hatte sie auf ein Bänkchen gelegt.
Sie las von einem kleinen Mädchen vor, das auf Befehl christliche Worte zu verinnerlichen hatte: „Wollte sie an ihnen nicht ersticken, musste sie gehorchen. Wer weiß, ob dieser Gott, von dem sie keiner befreien konnte, nicht noch viel grausamer war als der Führer, der sich umgebracht hatte, als der sinnlose, lange Krieg verloren ging. Ihr Schicksal war für sie ein vorprogrammiertes Verlorensein, ein Leben, das von Gott aus unweigerlich darin bestehen sollte, für die Ewigkeit zu leiden. Die Höllenschilderungen der Ordensfrauen quälten sie mehr als die Nazis es je gekonnt hatten.“ Sie trank mit zitternder Hand einen Schluck aus ihrem Glas. „Immer jedoch spürte das Mädchen in sich ein Sehnen. Wonach es sich allerdings sehnte, wurde ihm erst klar, als es Jahrzehnte später den Schlüssel zu seiner Innerlichkeitskammer fand, in der sich alte und neue Worte versteckt hielten und sich ihr nun, da sie die seelische Kraft der Erinnerung besaß, offenbarten.“
Sie beendete ihre Lesung mit einem Gedicht. Danach stand sie aus ihrem Sessel auf und kündigte die nächsten Vortragenden an. Nach drei Stunden bedankte sie sich und erklärte, dass dies die letzte Salon-Veranstaltung gewesen sei. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein paar Kerzen brannten auf den Tischen. Sie bewegte sich langsam durch den Raum und schaute jedem einzelnen lange in die Augen, berührte ihn, ging zum Nächsten, vor dem sie wieder lange verweilte. Es fiel kein Wort.
Spät in der Nacht war ich einer der letzten, die das Haus verließen. Sie hatte von ihrer Krankheit erzählt und dass sie den Arzt gefragt habe, ob er sie, wenn sie seine Frau wäre, in Anbetracht der Befunde operieren würde. Der Arzt hatte verneint.

Nach ein paar Monaten bekam ich einen Anruf von einem Hospiz. Sie hätte gebeten, dass ich komme.
Abgemagert und zerbrechlich wie ein zerrupftes Vögelchen im Schnee lag sie in ihrem Bett. Ihr kleiner Kopf mit den roten Haaren guckte aus der weißen Bettdecke und ruhte auf dem großen weißen Kopfkissen. Der Tisch war voll prächtiger Blumengeschenke. Daneben lag ihr Hut.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Sie konnte kaum sprechen und wir lächelten uns an. Sie sah, dass ich meine Gitarre mitgebracht hatte.
„Die Margerite?“ Sie strahlte.
„Man darf andere kritisieren, aber man darf ihnen nie ihre Würde nehmen!“, seufzte sie.
Sie wurde immer müder. Sie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern ab und legte die beiden Hörmuscheln mit der Verkabelung auf ihr Nachtschränkchen.
Ich hörte sie leise sagen: „Mit der Kunst ist es möglich, uns auf die Zehenspitzen zu stellen, um mit unserem dummen Kopf ein Stück vom Himmel zu berühren.“
Ich streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Wangen. Dann schlief sie ein. Ich hielt noch lange ihr kleines Händchen.
Von da an rechnete ich jeden Tag damit, einen Anruf mit der Nachricht ihres Todes zu bekommen.
Nach drei Wochen aber war sie selbst am Telefon: „Ich bin wieder zuhause! Willst du kommen?“ Sie schimpfte: „Halsabschneider! Alle wollten nur mein Geld!“
Über mehrere Monate hatte sie viel Besuch. Es war ein Kommen und Gehen. Allerdings konnte sie kaum noch hören und magerte noch weiter ab.

Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war die Wohnung ausgeräumt. Sie wurde gerade renoviert und ich konnte einen letzten Blick in die Räume des Salons werfen.
Später hörte ich, dass sie mit einem jungen Künstler in die Schweiz gefahren sei und eine Kapsel genommen habe. „Eine Beerdigung wollte sie nicht“, hieß es, sie wollte „in den Wolken begraben sein.“

Aus: Klaus Grabenhorst: Ein Stück vom Himmel, Geistkirch-Verlag, Saarbrücken 2011, S. 7-15. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Geistkirch-Verlags.