Fotografinnen der frühen Moderne im Rheinland
Annelise Kretschmer (1903-1987)

Frühe Entwicklung

Annelise Kretschmer wurde am 11. Februar 1903 als zweites von drei Kindern der großbürgerlichen Familie Silberbach in Dortmund geboren, wo der wohlhabende jüdische Vater ein Bekleidungsgeschäft betrieb. Annelise Silberbach wuchs in einem weltoffenen familiären Umfeld auf, in dem Kunst und Kultur einen hohen Stellenwert einnahmen und Künstler der Neuen Sachlichkeit ganz selbstverständlich ein- und ausgingen. Nach Beendigung des Goethe-Lyzeums im Jahr 1919 besuchte sie auf Wunsch der Eltern das „Töchterbildungsinstitut Dr. Weiss“ in Weimar. Für die in jeder Hinsicht wohlbehütete Annelise stellte sich die Frage einer Berufswahl nicht: Die junge Frau, die später eine erfolgreiche Karriere als Porträt- und Kunstfotografin machen sollte und als eine der ersten Frauen Deutschlands ein eigenes Atelier eröffnete, wollte vor allem eine Familie gründen. Die Fotografie war für sie zunächst nichts weiter als ein Hobby, das ihre gut meinenden Eltern finanzierten. Dass sie ihre Pläne änderte und stattdessen eine Ausbildung in dem für Frauen noch neuen Beruf der Fotografin begann, verdankte sich eher dem Zufall.

Der Weg zur Berufsfotografin

1920 folgte Annelise Silberbach ihrem Bruder nach München, wo sie bis 1922 an der Kunstgewerbeschule studierte. Ihre ersten Fotos entstanden während einer gemeinsamen Urlaubsreise nach Nordafrika - mit einer geliehenen Kamera. Die Fotografie machte ihr Freude und um ihr technisches Wissen zu vertiefen, absolvierte sie von 1922-1924 ein Volontariat im Atelier E. von Kaenels in Essen und von 1924-1928 ein Berufspraktikum beim Porträtfotografen Franz Fiedler in Dresden, wo sie u. a. den Bromöldruck erlernte. Sie wurde Fiedlers Meisterschülerin und begann mit eigenen Arbeiten zu experimentieren. „Ich machte in dieser Zeit“, erinnert sich Annelise Kretschmer, „meine ersten Versuche, den Menschen so darzustellen, wie er sich gibt. Ich wollte seine Eigenart erfassen und betonen.“ (Interview von 1982, S. 78, s. u.). Im Jahr 1926 wurde Annelise Silberbach Mitglied der „Gesellschaft Deutscher Lichtbildner“, aus der sie 1933 als „Halbjüdin“ ausgeschlossen wurde. Seit 1928 veröffentlichte sie ihre Fotos mit großem Erfolg regelmäßig in verschiedenen Fachjournalen und illustrierten Zeitschriften. Annelise Kretschmer hatte sich als Fotografin sehr rasch einen Ruf gemacht, sodass einige ihrer Arbeiten auf den beiden international bedeutendsten Ausstellungen moderner Fotografie - „Film und Foto“ (Stuttgart, 1929) und „Das Lichtbild“ (München, 1930) - gezeigt wurden.

Künstlerischer Exkurs: Paris

1928, im Anschluss an ihre Ausbildung bei Franz Fiedler, unternahm sie eine mehrwöchige Reise nach Paris, dem Zentrum der Avantgarde-Fotografie der 20er Jahre. Die Fotografie des „neuen Sehens“ setzte sich bewusst ab von den traditionellen Methoden des Realismus und experimentierte mit Formen der Wirklichkeitsaneignung zwischen Neuer Sachlichkeit und Surrealismus. Auch Annelise Kretschmer geht fotografisch ganz eigene Wege: ihre Impressionen der Metropole Paris „zeigen einen radikal neuen Blick auf die Stadt“ (Esther Ruelfs: Annelise Kretschmer. Fotografien 1927-1937, S. 10). Ihre Motive findet sie abseits der beliebten Touristenmagneten und quirligen Pariser Boulevards. Ob verfallene Hinterhöfe oder heruntergekommene Fassaden, ob ausgediente Bistrostühle oder die gusseiserne Verzierung einer halb verwitterten Parkbank - Kretschmers „poetisierende“ Bildsprache macht auf das Besondere im Alltäglichen aufmerksam (Ester Ruelfs, S. 11). Ihre Arbeiten zeigen - vorwiegend in der Nahaufnahme - ungewöhnliche Bildausschnitte und Details gewöhnlicher Gegenstände und Situationen. Durch die Dekomposition des Sujets werden bestimmte Aspekte bewusst aus ihrem gewohnten Kontext oder Funktionszusammenhang herausgenommen und erhalten so ein besonderes Eigenleben.

Parkbank Paris, 1928[© Museum Folkwang]

Familie und Beruf

Während ihrer Zeit in Dresden lernte sie den Bildhauer Sigmund Kretschmer kennen, den sie 1928 heiratete und mit dem sie vier Kinder bekam. 1929 kehrte die junge Familie nach Dortmund zurück, wo Annelise Kretschmer noch im gleichen Jahr im 2. Stock des elterlichen Geschäftshauses ihr eigenes Atelier für Porträtfotografie eröffnete.

Sigmund Kretschmer, um 1928[© Christiane Maria von Königslöw]

Da ihr Mann als Künstler wenig zum Familieneinkommen beisteuern konnte, wurde sie zur Alleinverdienerin der Familie. Auch wenn es ohne die Hilfe ihrer wohlhabenden Eltern nicht möglich gewesen wäre, sie hatte es aber geschafft, aus ihrem Hobby einen Beruf zu machen, der eine wachsende Familie ernährte. Als erfolgreiche Porträtfotografin und mehrfache Mutter absolvierte sie schließlich 1936 die Meisterprüfung und arbeitete u. a. als Ausbilderin. Weitgehend verschont durch die Nachstellungen des NS-Regimes überlebte die Familie die letzten Kriegsjahre in der Nähe von Freiburg. Annelise Kretschmers Atelier wurde 1944 bei einem Bombenangriff zerstört und 1950, nach der Rückkehr der Familie nach Dortmund, wiedereröffnet. Seit 1958 betrieb sie ihr Studio gemeinsam mit ihrer Tochter Christiane.

Porträtfotografie

Dass Annelise Kretschmer den Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit schon früh auf die Porträtfotografie verlegte, hängt nicht zuletzt mit ihrem besonderen Interesse am Menschen zusammen. Die Kamera wurde ihr dabei ein Leben lang zum Medium der „Kontaktaufnahme“ mit ihrem jeweiligen „Gegenüber“. Annelise Kretschmer übernimmt die Auffassung ihres Lehrers Fiedler, dass sich die moderne Atelierfotografie nicht länger an den strengen formalen Maßgaben der traditionellen Bildnisfotografie zu orientieren habe. Das psychologische Porträt soll vielmehr die individuelle Persönlichkeit des Porträtierten herausarbeiten und im Bild festhalten. Die „eigentliche Schwierigkeit bei der Porträtfotografie ist es“, so Kretschmer, „den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen“ (Interview, S. 82). Da die Porträts möglichst authentisch und natürlich wirken sollten, verzichtete sie auf Requisiten ebenso wie auf jede Form der Inszenierung. Daher überließ sie es ihren zu Porträtierenden, wie sie sich kleideten oder wie sie sich vor der Kamera bewegten.

Gisela Silberbach, um 1929 [© Christiane Maria von Königslöw]
Tochter Tatjana, um 1936 [© Christiane Maria von Königslöw]
Porträt um 1929 [© Museum Folkwang Essen]

Nach dem Krieg arbeitete Annelise Kretschmar vorwiegend für Kunden aus Industrie und Wirtschaft, die häufig alle Familienmitglieder über lange Jahre immer wieder porträtieren ließen. Auch sie selbst machte unzählige private Fotos, die ihre Familie insbesondere aber ihre Kinder zeigen, deren Entwicklung sie mit der Kamera festhielt. Sie arbeitete aber auch für verschiedene Zeitschriften. So machte sie u. a. Frauenporträts für die „Wochenschau“. Das Besondere an diesen Aufnahmen war, dass sie gelegentlich ein und dasselbe Fotomodell ablichtete, das dann – je nach Darstellungsart – ganz unterschiedliche Frauenrollen verkörperte. In den 50er Jahren porträtierte Annelise Kretschmer auch zahlreiche Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur wie den Bildhauer Ewald Mataré, den Künstler Gerhard von Graevenitz, den Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler oder den Fotografen Albert Renger-Patzsch.

Annelise Kretschmer starb am 13. August 1987 im Alter von 84 Jahren in Dortmund.

Bildhauer Ewald Mataré, um 1960[© Galerie Priska Pasquer, www.priskapasquer.de]

Annelise Kretschmers Rückblick

„Rückblickend auf meine fünfzigjährige Berufstätigkeit muß ich sagen, daß mir alles gleich wichtig ist. Mich interessierte, was ich fotografierte, und der Einsatz war jedesmal da – ich habe getan, wozu ich imstande war. Mein Beruf wurde eine selbstverständliche Hingabe an die Arbeit, ebenso als Handwerk, ebenso als künstlerische Äußerung und als immer neue Quelle menschlicher Beziehungen und dadurch menschlichen Reichtums.“ (Quelle: Ute Eskildsen: Interview mit Annelise Kretschmer (1982) s. u. S.83)

Porträt in der Sonne, 1930er[© Galerie Priska Pasquer, www.priskapasquer.de]

Gedanken zu Leben und Werk von Annelise Kretschmer von Christiane M. von Königslöw

Zu Grunde gelegte Literatur:
Eskildsen, Ute: Interview mit Annelise Kretschmer (1982). In: Ruelfs, Esther: Annelise Kretschmer. Fotografien 1927-1937. Göttingen 2003. S. 75-83.
Eskildsen, Ute (Hrsg.): Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik. Düsseldorf 1994. [S. 26f. & 161ff.]
Königslöw, Joachim von: Annelise Kretschmer. http://www.biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=1419 (Forschungsstelle Kulturimpuls).
Ruelfs, Esther: Annelise Kretschmer. Fotografien 1927-1937. Göttingen 2003.
© Frauen-Kultur-Archiv Düsseldorf