Yvonne Friedrichs Textforum

Kreuzblume und Falter

Anatol in der Galerie Ursus Presse

Anatol in der Galerie Ursus Presse – das ist so überraschend nicht, wie es auf den ersten Blick scheint. Anatol Herzfeld – Künstler und Polizist, Beuys-Schüler, Happening-Inszenator, Objekte-Bauer, Erfinder der „Arbeitszeiten“ – er ist auch das, was die meisten nicht wissen: Maler. Und einer von besonders empfindsamer Art dazu. Das hat er uns schon bei einer Ausstellung im Hagener Karl-Ernst-Osthaus-Museum verraten. „Meine Aquarelle sind Geschichten, Zeichen von dem, was ich nicht schreiben kann“, sagt er. Anatol, gebürtiger Ostpreuße, ist gelernter Schmied. Gerade die Schmiede waren schon in ältester Zeit geheimnisvolle Magier. Anatol hat dieses Titanische und Zärtliche, vor allem das Gespür fürs Eigentliche, das Leben zwischen Geburt, Liebe, Kreuz und Tod – Wahrheiten, an denen alles zu messen ist, auch die Kunst. Sie beschäftigen ihn unaufhörlich.

Was Anatol jetzt in der Ursus-Presse ausstellt – Materialreliefs, Plastiken, Aquarelle, Mischtechniken, Zeichnungen – hat er in den letzten Monaten geschaffen. Der Frühling lag ihm schon im Sinn, der frühe Frühling am Niederrhein mit Regenfeuchte, Erdgeruch, Ackerfurchen hin zum Bauernhaus, Weite unter Wolken, Kahn am Ufer, Kirchturmspitze.

Und da sind diese aus dem Rhein gefischten, ausgelaugten alten Bretterstücke, auf denen flugs Visionen gaukelnder gelber Falter zwischen blauen Streublüten – kindlich leicht und schlicht Gemaltes – erscheinen. Schneewittchen liegt zart und fein mit geschlossenen Lidern im gläsernen Sarg. Auch aquarellierte Geschichten vom „Wassermann“ gibt es, der offenbar nicht ungern tanzende Nixen beäugt.

Anatol zimmerte außerdem eine bäuerliche Wiege aus Holz, nur ein bißchen höher ist sie als normale Wiegen, damit auch Erwachsene darin schaukeln können; ein marmornes Baby liegt auf einem Schemel davor, „Das uneheliche Kind“. „Ich selbst wurde von einer Mutter ohne Vater geboren“, meint der Künstler.

Eine ganze Menge Bleirelief-Bilder, kombiniert mit bemalten Rupfen-Stücken und andern auf Holz montierten Materialien hängen da. Sie wurden mittels eines Negativs in Schamott-Ton modelliert „wie ein Täterabdruck, um sie authentisch zu machen“. Ein gelber, vierblättriger Lippenblüter, Raps, die „Kreuzblume“ der Gotik tauchen vielsagend immer wieder auf. Montiert auf ein Stück verwitterten alten Scheunentors vom Bauernhof, wo Anatol als Kriegsgefangener war, umgeben sie, - mit Draht zu einem Kranz verbunden – den Gekreuzigten („Der Herr“): eine volkstümliche Ikone. Oder sie blühen auf einem weiß übermalten Rupfenberg, auf dem ein bleiernes Mädchen sitzt, das die Hand eines Mannes hält – am kalten „Winterabend“ ein Anhauch wärmender Empfindung.

Ein wenig an die Calvarienberge der Bretagne erinnert die „Schmerzstunde“ (Mariä Empfängnis). Kreuzblume und Falter – als Hinweis auf die Metamorphose des Schmetterlings – sind auch zugegen in „Vaterwunsch“, einem volksliedhaften Bildsymbol des Zeugungsprozesses, der „Nahtstelle zwischen Leben und Tod“. Schwarz scheint die Sonne über der Darstellung eines toten Kindes mit blauem Herzen. Seit sein einziger Sohn Heiko tödlich verunglückte, zeichnet der Vater seine Arbeiten mit „Anatol-Heiko“.

Doch in einem Triptychon wird wieder „Der Frühling“ gefeiert mit „Gottes Urpflanze“ in der Mitte, umgeben von Urgestein, Kreuzblume und dem Umriß einer Frau.

Anatols Kunst ist ungekünstelt, echt, direkt, dabei verstohlen poetisch. Jedes Bild, jedes Objekt ist ihm Herzensangelegenheit, Daseinsbewältigung, jedes ist ein eigenes Lebenserlebnis, auch das kleine „Friesendorf“ mit seinen handgeformten Häuschen und dem Kirchturm aus gebranntem Ton.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Feuilleton, 27. März 1982