Yvonne Friedrichs Textforum

Fein geknüpftes Leben

Teppiche von Attersee in der Galerie Heike Curtze

„Waldfische“, „Mohnvase“, „Tauträger“, „Tautausch“, „Nachtkatze“ oder „Griechin“ heißen sie: die in Zentralanatolien handgeknüpften Teppiche nach Entwürfen von Christian Ludwig Attersee aus den Jahren 1991/92. In der Galerie Heike Curtze sind sie nun ausgestellt. Herausgegeben in einer Auflage von bis zu fünf Einzelstücken im Format 240 x 180 cm wurden sie von der Edition Mavico.

200 000 Knoten pro Quadratmeter knüpften fleißige Hände im abgelegenen Hochland, wo die Tradition des alten Handwerks noch weiterlebt, durch diese Aufgabe auch neu belebt wird. Das Material, eine Mischung aus Hochland- und Angorawolle, nahm die ausschließlich verwendeten natürlichen Pflanzenfarben besonders gut an. Eine österreichische Spezialistin für Pflanzenfärbung hatte die in die unmittelbare Knüpfvorlage übertragenen Entwürfe nach Anatolien begleitet und die sich über Wochen hinziehende Färbearbeit der Wolle beratend und helfend überwacht.

Wie ein Wunder erscheint es trotzdem, daß die ungewöhnlich reich differenzierte Farbsensibilität Attersees auch in diesen Teppichen und in dem Woll-Material so malerisch zum Ausdruck kommt. Den Knüpferinnen wurde in der Umsetzung größte Freiheit gelassen. Und man kann beispielsweise in zwei Teppichen mit dem gleichen Motiv der „Mohnvase“, die von verschiedenen anonymen Handwerkerinnen gefertigt wurden, den Unterschied erkennen. Doch mit welcher Einfühlung, mit welchem Geschick haben sie die schwierigen Entwürfe Attersees mit geknüpftem Leben erfüllt.

Es muß da so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen dem vielseitigen österreichischen Künstler, einem der bedeutendsten der Wiener Schule, und den Frauen aus Anatolien im Spiel sein. Natur, „Wasser und Wetter“, Transformation, ständige Bewegung, das „innere Kommando“ sind Ausgangsbereiche seines Schaffens. Für ihn ist das Vorhandene nur Vorwand, alles neu zu gestalten und anders zu kombinieren. Die Welt, die er malt und darstellt, ist für ihn eine geradezu sinnliche Erfahrung.

„Geknüpfte Wetter“ nennt er die von ihm entworfenen Teppiche. Über blauen Traumgründen scheinen informelle Farbbewegungen alles Festgeformte aufzulösen und doch auch wieder einzubinden in ein visionäres Bildgeschehen voller Poesie und sinnlicher Anspielung.

Ein Vogelkopf berührt mit dem Schnabel die große rote „Mohnvase“ in einer himmlisch-wässrigen Blau-Landschaft: ein Gefäß, das das flirrende Licht im Raum, die Fülle von Bewegung, kaum zu fassen vermag. Eine „Nachtkatze“ springt von Tannenbaum zu Tannenbaum. „Waldfische“ fliegen wie Sehnsuchtsvögel durch die Landschaft, und „Tautausch“ ereignet sich verrätselt zwischen fliegenden (oder schwimmenden?) menschlichen Wesen in Blaugefilden.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 6. Mai 1993