Yvonne Friedrichs Textforum

Die Ernte des Lebens

Germán Becerra stellt in der Galerie Hella Nebelung aus

Germán Becerra ist ein Künstler von hohem Rang. Angesichts der Qualität seiner Arbeiten und seines vielseitigen Schaffens als Maler, Bildhauer und Zeichner fragt man sich: Warum steht er immer noch im Hintergrund der „Szene“? In seinen poetischen Werken lebt jenes Etwas, das nur die konzentrierte Versenkung in das Unsichtbare zutage fördert. Seine Schau ist diesseitig und jenseitig, sie betrifft immer den Menschen – den von einst und den von heute.

Es ist die Erfahrung der Fruchtbarkeit dieser Erde in überquellender Fülle, aber auch die der Bedrohung durch Mächte und Menschen. Alle Bilder, alle Formen, so will es scheinen, werden vital oder auch monumental gebaut, um der großen Melancholie, der „Krankheit zum Tode“, zu begegnen und sie zu überwinden. Das Einfache ist hier mit Intensität und hochgradiger innerer Spannung erfüllt.

Wie eindringlich werden in diesen Bildern und Skulpturen Archaisches und Gegenwärtiges zur Deckung gebracht! Germán Becerra wurde 1928 in Sotaguirá/ Kolumbien geboren. Die altindianischen Tempel seines Heimatlandes, die Plastiken und Reliefs in ihren prägnanten abstrahierenden Konturen, ihrer Monumentalität, ihrer beschwörenden mythischen Kraft und Strenge haben sich ihm tief eingeprägt. Aber auch die Religiosität der Menschen von heute, die die Wärme der Gemeinschaft im dichtem Beieinander suchen, das volkstümliche Leben mit seinen prallen Formen und blühenden Farben.

Man kann das jetzt sehen in der Galerie Hella Nebelung (Ratinger Tor), die eine beeindruckende Auswahl von 30 Pastellen, 23 Plastiken und zwei großformatigen Bildern in Öl und Kohle Germán Becerras aus der Zeit zwischen 1958 bis 1985, darunter zahlreiche ganz neue Arbeiten, zusammengestellt hat. Der Künstler, der zwischen 1949 und 1967 zuerst an den Kunstakademien in Bogotá, Rom und Düsseldorf (als Meisterschüler von Pankok), zuletzt in Paris studiert hat, lebt in Düsseldorf und im ländlichen Burgund bei Beaune.

Seine Motive findet er draußen, in seiner unmittelbaren Umgebung: auf dem Düsseldorfer Markt, in den U-Bahnschächten, in den Weinbergen. Immer sind es die Menschen, die ihn als Maler und Bildhauer fesseln. Doch in seinen stets das große Einfache, Wesentliche objektivierenden Bildern und Skulpturen erscheinen sie zeitlos, sind ihrer Individualität entwachsen. Sie werden, wie in dem großen Kohlebild von 1965, zu einer anonymen, sehr plastisch wirkenden Menschengruppe – Schauende, Sitzende, Schlafende etwa – zwischen Licht und Schatten. Daneben die gegenwärtigen und gleichzeitig ganz abgehobenen Pastelle von der Getreide- und Weinernte in expressivem lichtvollen Gelb, Orange, Rot, Blau, Grün, Violett – die ganze Skala möglicher Farben, die das Leben hervorbringt: das reife Goldgelb der Felder, die sammelnden, pflückenden Frauen, ganz integriert in den Rhythmus der Landschaft, der Hügel und des welligen Bodens; Männer mit vollen Körben, Überfluß der Früchte: alles ist rund. Das ist nicht nur ein zufällig beobachtetes Geschehen, das ist Ernte schlechthin, Ernte des Lebens.

Und dann gibt es diese erregenden, gleichnishaften Gestalten, wie sie vor allem in den jüngsten Jahren entstanden. „Carnevalesque“ (1985) heißt eines dieser wunderbaren Pastelle: vier in violetten, orangefarbenen Linien vage umrissene Figuren tauchen auf aus dem Blauschwarz der Nacht wie Schemen. Groß eine andere Figur mit Sack über der Schulter und Wanderstab. Sie schaut zurück („Flucht 1“, 1984), Farben scheinen auf aus dem Dunkel, klare Konturen. Und immer diese großen Augen, die Tore zu einer anderen Welt öffnen, wie bei jenem reglosen, traumfarbenen „Wächter“ („Le Guardien“, 1979). Vielleicht ist er ein Engel, wie auch dieser „Spaziergänger“ (1984), voller Expressivität und innerer Spannung und doch ruhevoll, ähnlich altindianischen Stelen: ein Wanderer zwischen den Welten.

Solche in sparsamste Form konzentrierte Expressivität ist auch in den unvergleichlichen Plastiken in Birnbaum-, Ulmen-, Eichenholz, Beton, Aluminium, Kalkstein oder Bronze. Auch sie werden immer knapper, geheimnisvoller. Der „Pfahl 2“ etwa in Eiche, eine Stele, die auf ganz Verinnerlichtes, ja Sakrales verweist; „La Dame aux Macarons“ (1983), ein charaktervoller Frauenkopf in fein poliertem Holz, mit sorgsam gescheitelten Haarstrukturen, herb, sensibel, schwermütig; ein ganz abstrahierter „Verurteilter“, ein stelenhafter „Kopf“, aus einem rissigen Eichenstamm herausgeschlagen, Paare, Bäuerinnen, Mädchen, Familie: einzigartige Erlebnisse und Ereignisse.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 27. April 1985