Yvonne Friedrichs Textforum

Noten in Bildern, verständlich für Kinder

Der in Düsseldorf lebende Buch-Illustrator Johannes Grüger wird 85 Jahre / Herkunft aus Breslau

Kinderbuch-Illustratoren sind andere Menschen, oft stille, feinfühlige, versponnene. Wie könnte es auch anders sein, wenn man täglich mit Engeln und Heiligen, mit Königen und Helden, mit Blumen und Schmetterlingen, mit Tieren zu Wasser und zu Lande oder mit Sonne, Mond und Sternen verkehrt, sie nach ihrem Wesen, ihrer Gestalt fragt; wenn einem die Bilder zuwachsen aus vielen, vielen Geschichten?

Johannes Grüger, der gestern sein 85. Lebensjahr vollendete, hat unzählige Kinder in aller Welt erfreut, hat ihnen in früher Jugend eine Welt der Bilder, der Phantasie aufgeschlossen, die sie innen reich machte fürs Leben. Weit über 120 von ihm illustrierte Kinderbücher erreichten rund um den Globus eine Gesamtauflage von mehr als zehn Millionen Exemplaren.

Bunte Kreidevögelchen

Aus Musik sind sie erwachsen. Ganz am Anfang waren sie Ansporn zum Singen der Kleinsten in der Schule. Als die nämlich Notenköpfe auf der Wandtafel nicht begriffen, verwandelte sie ihr Musiklehrer Heribert Grüger, der ältere Bruder von Johannes Grüger, flugs in farbig gezeichnete Kreidevögelchen, die auf den Notenlinien munter zwitscherten und die Höhen und Tiefen der Töne, ihren Auf- und Abstieg markierten. Die Idee der „Liederfibel“ war geboren und wurde umgehend von seinem Bruder, dem Zeichner, verwirklicht.

1926 erschien die erste „Liederfibel“ in der Ostdeutschen Verlagsanstalt von Viktor Kubczak in Breslau, wo Johannes Grüger 1906 als Sohn des Kalligraphen Max Grüger geboren wurde. Der 21jährige besuchte damals die Theaterklasse von Professor Hans Wildermann an der Breslauer Kunstschule (1926-1929) und war anschließend zwei Jahre als Bühnenbildner tätig.

Die schon bald außerordentlich erfolgreiche „Bilderfibel“ von Johannes und Heribert Grüger, der zwei weitere unterschiedliche Ausgaben folgten und die auch im amerikanischen Verlag Lippicott & Co. in Philadelphia verlegt wurde, brachte Johannes Grüger auf den Weg des Buch-Illustrators. In den dreißiger Jahren war er außerdem Gemälderestaurator in den Städtischen Kunstsammlungen Breslau. Während des Kriegs gingen alle seine frühen Arbeiten dort zugrunde, auch die Druckstöcke und Lithos der „Bilderfibel“. 1945 kehrte Johannes Grüger mit einem einzigen geretteten Pinsel zu seiner in das Dorf Aiterhofen bei Straubing geflohenen Familie – er war mit der Schauspielerin Erika Fricke verheiratet – heim. Dort fand sich bald auch der Verleger Viktor Kubczak ein.

Nach einem erhalten gebliebenen Exemplar malte Grüger die Illustrationen zur „Liederfibel“ neu, und Kubczak gab sie 1949 – auch neu gestaltet – in dem von ihm gegründeten Brentano Verlag Stuttgart heraus: wieder mit durchschlagendem Erfolg. Die Auflage stieg in den nächsten Jahrzehnten in die Hunderttausende, später auf 1,5 Millionen.

Im Spiele lernen

Denn auch nach dem Tod Kubczaks, als der Düsseldorfer Schwann-Verlag die Rechte übernahm und die Werke mit neuen Bildern in acht verschiedenen Auflagen edierte, hatte die Zauberformel, Noten wie im Spiel durch Bilder zu lernen, nichts von ihrer Kraft verloren. Es erschien auch eine Sonderauflage mit acht Liedern und einer Schallplatte, auf der ein Kinderchor, begleitet von Orffscher Musik, singt.

Drei Generationen von Kindern sind nicht nur mit der „Liederfibel“ aufgewachsen, sondern auch mit den vielen anderen von Johannes Grüger illustrierten Kinderbüchern. Genannt seien besonders die in ihren Bildern – einer inspirierten Mischung aus mittelalterlicher Miniatur und unschuldsvoll-naiver Kunst – auf so wundersame Weise kindhaften religiösen, im Patmos-Verlag erschienenen Bücher, darunter die „Kleine Eckersche Schulbibel“: ein Welterfolg.

Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Russische, Ukrainische, ins Arabische, in die Sinti-Sprache, in verschiedene afrikanische Dialekte und in Indianersprachen. Die für noch kleinere Kinder gedachte „Bilderbibel“ erreichte in Deutschland und acht weiteren Ländern, von der Tschechoslowakei bis Borneo, eine Gesamtauflage von über 350 000 Exemplaren.

Neben seinen Illustrationen hat Johannes Grüger, der seit 1951 in Düsseldorf lebt, unter dem Eindruck der Schrecken und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit expressiv-surreale, phantastische, Kubin, Brueghel, Bosch nahestehende Federzeichnungen geschaffen. In dieser Zeit malte er auch zwei kleine niederbayerische Kirchen aus.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Feuilleton, 13. Februar 1991