Yvonne Friedrichs Textforum

Pinselzüge drängen in die Ferne

Zeichnungen auf Papier von Dieter Hiesserer, ausgestellt bei Clara Maria Sels

„Illusionen und Verführungen sind unzerstörbar“ hat Dieter Hiesserer im schönen Katalog seiner zweiten Ausstellung in der Galerie Clara Maria Sels (Poststraße 3) geschrieben. Was man nie erreicht, nie einholt, so meint er wohl, bleibt heil – als unaufhörliche Verführung und Sehnsucht. Hiesserers große Pinselzeichnungen in Acryl und Pigment auf Papier von 1992 haben in ihren ebenso dämonischen wie puren, breit hingestrichenen Pinselzügen jenen unaufhaltsamen Drang in die Ferne.

Dabei sind sie in jeder Phase ihres Verlaufs derart sinnlich in ihrem Farbvolumen, daß man die Linie selbst als körperhaft empfindet, als Konzentrat von Visionen und der unbewußten malerischen Reaktion. Farbe und Bewegung – innere Bewegung – sind eins. Man meint, die Pinselspur suche sich ihren Weg selbst. Hiesserer hat einmal das Wort von der „electric energy“ als schöpferischer Potenz fallen lassen.

Hiesserers sich in der Offenheit des Raums weit entfaltende Bilder, die nichts schon Sichtbares abbilden, haben etwas von Urerlebnissen, von Eruptionen, von Momenten totaler Verausgabung im malerischen Prozeß. Der kann dramatisch, schmerzhaft oder sinnlich-meditativ sein, stürmisch getrieben oder glückstrunken verweilend.

Jedes Bild entsteht sozusagen in einem Zug. In einer einzigen Bewegungs- und Spannungsphase wird es dem weißen Blatt anvertraut. Jedes ist zugleich Spiegel, Reflex des Prozesses selbst. Das Risiko des Nicht-Ankommens schwingt immer mit. „Man muß stoppen, wenn das Bild die größte Fragilität hat“, meint Hiesserer. Die Faszination dieser Bildwerke, die oft in Serien entstehen, liegt vor allem in ihrer fast archaischen, ursprünglichen Kraft der dennoch verschlüsselten malerischen Aussage.

„Siguirigas“ sind andalusisch-maurische Gesänge. Ihr feuriger Schmelz, ihre verzehrende Poesie tönen und tanzen in Hiesserers gleichnamigen auf lodernde Linienzweige reduzierten Farbchoreographien. Blutströme scheinen da durch die immer wieder neu ansetzenden Pinselschwünge zu pulsieren wie auch in „Barcelonita“: Hier aber als schmerzhafter Schrei der gequälten Natur, denn das ursprüngliche Dorf wurde ausradiert, mußte Hochhäusern Platz machen.

Ein heller, wunderbarer Klang in Lichtgelb wie von einer Glocke, beglückt in einem wohltuend gelösten, auf Ultramarin gestimmten, sanft in sich ruhenden Bild aus der Reihe „Valentine“. Einer wunderbaren Ikone gleicht das geheimnisvolle, in lichtdurchdrungenes venezianisches Gelb versunkene, andeutungsweise von kostbarem Braunrot gerahmte Bild „Reflexion“, das auf Gaêta entstand. Man vermeint darin, gleich einer Vision oder traumverlorenen Erinnerung eine Frauenfigur zu erkennen.

Geradezu überwältigend ist die Verzauberung durch etwas unbegreiflich Schönes vor dem jüngsten, titellosen Bild des Künstlers. Nur die sinnliche Ausstrahlung, der Akkord pastos aufgetragener Farben – Rot, Goldgelb, Rosa vor allem – bewirkten das. Rosenblühen ist darin, vielleicht auch ein bißchen Goya. In den winzigen Aquarellen gibt es hauchfeine Farbberührungen, -übergänge und -transparenzen aufblühender und verlöschender Tönungen, die geradezu auf der Zunge zergehen.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Feuilleton, 1. Oktober 1992