Yvonne Friedrichs Textforum

Hrdlicka und das Dämonische

„Ich habe keine Visionen, ich lese Zeitung“, soll Alfred Hrdlicka einmal gesagt haben. Er bezieht Stellung zu dem, was um ihn herum passiert. Im Gegensatz zu manchen Zeitungslesern, die nach der Lektüre auch katastrophaler Nachrichten zur Tagesordnung übergehen, fühlt sich Hrdlicka im Innersten aufgewühlt.

In geradezu selbstquälerischer Leidenschaft nehmen die dunkelsten Triebe des Menschen in seinen Arbeiten Gestalt an, verdichten sich in spannungsgeladenen Menschengruppen, in erregten Schraffuren, flackerndem Helldunkel der Radierungen, in übersteigertem, brutalem Realismus der Plastiken Angst, Bedrohung, Grausamkeit, psychische Abnormität, sexueller Exzeß. Der Mensch wird einseitig als Ungeheuer gesehen, als Vollzugsorgan oder Opfer verbrecherischer Mächte und chaotischer Leidenschaften.

Nachdem 1971 der Graphiksalon Söhn eine große Auswahl der bis dahin erschienenen Graphiken Hrdlickas gezeigt hatte, sind jetzt in der Junior Galerie (Orangeriestr. 6) einige der neuesten Radierfolgen und Zeichnungen neben mehreren Bronzen ausgestellt.

Im Mittelpunkt steht der komplette Zyklus „The rake’s progress“ (Das Leben eines Wüstlings), der an das berühmte sittengeschichtliche Werk von Hogarth aus dem 18. Jh. anknüpft, und die 1973/74 entstandenen 52 Radierungen „Wie ein Totentanz“, ein Kommentar zum 20. Juli 1944.

Hrdlicka (geb. 1928 in Wien), der Schüler von Gütersloh, Dobrowsky und des Bildhauers Wotruba, der als Radierer an die Technik Rembrandts anknüpft, erweist sich hier aufs neue als ein Nachfahre Goyas in der schonungslosen Entlarvung des Diabolischen. Um das so konzentriert zu offenbaren - meisterlich im Technisch-Formalen -, bedarf es wohl einer so temperament- und wesensbedingten Einseitigkeit der Weltsicht.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 11. März 1975