Yvonne Friedrichs Textforum

Vom optischen Chaos zum Organismus

Photoskulpturen und Zeichnungen von Klaus Kammerichs im Kunstverein

Wenn sich im 19. Jahrhundert renommierte Maler – wie Lenbach etwa, oder Zille – der Photographie als Vorlage und Hilfsmittel für ihre Bilder und Zeichnungen bedienten, so taten sie dies verschämt und hinter verschlossener Tür. Im Mittelalter, ja noch bis in die Barockzeit hinein, war es durchaus nicht ehrenrührig, sondern gang und gäbe, daß auch die berühmtesten Künstler Motive aus den in allen Werkstätten aufliegenden Kupferstichen, Modellzeichnungen oder Musterbüchern kopierten. Der Brauch, mit Mustern, Modellen und technischen Hilfskonstruktionen zu arbeiten, geht bis ins früheste Altertum zurück.

Die Photographie, die zunächst als gefährliche Konkurrenz der Malerei gefürchtet wurde und später die abstrahierenden und das äußere Bild der Wirklichkeit verfremdenden Kunstrichtungen mit auslöste, ist inzwischen durch Collage und Assemblage, durch Pop-, Land-Art und Photorealismus sogar nominell in das Kunstwerk integriert.

Der Düsseldorfer Künstler Klaus Kammerichs kann für sich in Anspruch nehmen, eine ganz spezielle Verwertung und Manipulation des Photos erfunden zu haben. Als seine ersten „Photoskulpturen“ 1971 in einer Ausstellung der Galerie Niepel auftauchten, war das eine kleine Sensation. Man bestaunte ihre eigenwillige Technik – eine wahre Sisyphos-Arbeit. Wichtig sind die Arbeiten Kammerichs’ aber auch historisch als vermittelndes Bindeglied zwischen informeller Struktur und realistischer Figuration, denn beide Elemente sind in reinster Form gleichzeitig in jeder seiner Skulpturen enthalten.

Dies beruht auf einem seltsamen, verblüffenden Effekt, den der Betrachter selbst steuern kann: geht er dicht an die Reliefs und Plastiken heran, zerfallen sie in zerklüftete Strukturlandschaften mit spitzigen Klippen und dunklen Schluchten, in denen das Auge umherirrt und vergeblich Sinn und Halt sucht. Bei zunehmender Entfernung verdichtet sich das optische Chaos zum geschlossenen Organismus und schließlich zum problemlosen Abbild profaner Wirklichkeit.

Die Distanz schafft Klarheit. Punktuellen Strukturen eines numinosen plastischen Rasters fügen sich in einer „Briefmarkenserie“ zusammen zum Porträt von John Kennedy oder Friedrich dem Großen, Heinemann oder Hitler, Ulbricht, Franco, Elisabeth II. von England, auch zum Selbstbildnis oder zu einem Tigerkopf. Banale Gegenstände des täglichen Lebens – Wasserhahn, Telefon, Taschenlampen – werden zum „Aha-Erlebnis“. Am erstaunlichsten sind ganze Reliefwände in Abmessungen von 2x5 Metern mit kompletten Rugby- und Eishockey-Mannschaften oder einer Radrennfahrergruppe der „Tour de France“. In ihnen wird die ganze Dynamik, die sich in Kammerichs’ Technik verbirgt, herausgeholt.

Ihr Geheimnis liegt in einer räumlich-plastischen Abstufung der Grau- und Helldunkelwerte einer zugrundeliegenden Photographie, wobei die hellsten Töne als plastischste Erhöhungen in den Vordergrund rücken, die dunkleren sich in die Tiefe stufen. Kammerichs setzt also nicht die Photographie unmittelbar in Skulpturen um, sondern die Reliefschichtung ergibt sich aus den Tonwerten. Alle Arbeiten sind mit Draht in mühsamster Präzisions- und Geduldarbeit aus Hartschaumplatten ausgesägt und in Graunuancen, seltener farbig, bemalt.

In den jüngsten Arbeiten ist der optische Verwandlungsprozeß noch komplizierter geworden. Kammerichs nimmt Abstand vom banalen Wirklichkeitsabklatsch als Endresultat einer kinetischen Sehschule. Die Silhouette von Realitätsausschnitten, die er von zwei Standpunkten aufgenommen hat, überschneidet und durchdringt sich in der Plastik. So entstehen würfelartige komplexe Skulpturen: ein „Silberwald“, eine „Hobelbank“, ein „Frühstück im Freien“, in denen sich für diese verblüffende Technik neue Perspektiven eröffnen.

Klaus Kammerichs, 1933 in Iserlohn geboren, ist gelernter Photograph, war als Bildjournalist tätig, bevor er an der Düsseldorfer Werkkunstschule und Kunstakademie studierte. Der spätere Werbeleiter erhielt 1962 einen Lehrauftrag für Photographie an der heutigen Düsseldorfer Fachhochschule, an der er seit 1973 Professor im Fachbereich Design ist.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. März 1975