Yvonne Friedrichs Textforum

Erotisches Versteck für die Front

Lackmalereien auf Schnupftabaksdosen und anderem im Goethe-Museum

Ihren idealen Schau-Platz hat eine aparte Ausstellung mit über 300 Lackdosen und anderen in Öllackfarbe aufs Zierlichste bemalten Objekten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus der Braunschweiger Manufaktur Stobwasser im Goethe-Museum gefunden, nachdem sie schon durch mehrere Städte gewandert war. Die ungewöhnlich reizvolle, von der Bayerischen Vereinsbank veranstaltete und von weiteren Sponsoren unterstützte Schau wurde von Detlev Richter konzipiert, dem Autor auch des attraktiven Katalogbuchs mit Informationen zu den sämtlich abgebildeten Ausstellungsstücken (Verlag Klinkhardt & Biermann).

Alle kommen aus deutschen Privatsammlungen, werden erstmals vorgestellt. Nur in Düsseldorf sieht man jetzt auch zwei Neuerwerbungen eines Privatsammlers: Eine Schnupftabakdose mit einem locker komponierten, subtil gemalten Gruppenportrait von Goethe, Schiller, Wieland, Klopstock, Lessing und Herder, außerdem eine Dose mit einem „Faust“-Motiv.

Das verführerische Panorama preziöser Lackmalerei-Miniaturen, überwiegend auf den Deckeln von Schnupftabaksdöschen aus Papiermaché, aber auch auf Etuis, Tabletts, Vasen, Bechern sowie Tischplatten und größeren Öllack-Gemälden vermittelt einen plastischen Eindruck vom damaligen Zeitgeschmack.

Frivolitäten des Rokoko

Hinter der Fassade minuziös gemalter Schönheit verbirgt sich da vieles. Die Frivolitäten des Rokoko beispielsweise werden vom erwachenden Bürgertum gern übernommen in unverblümt erotischen Darstellungen, die, unter dem doppelten Boden oder Deckel von Schnupftabaksdosen versteckt, besonders gern von Militärs mit ins Feld genommen wurden. Das Bildnis eines tugendsamen Mädchens oder einer keuschen Vestalin auf dem Deckel ließen davon nichts ahnen.

Bezaubernde, duftig und romantisch bekleidete, rosengeschmückte junge Mädchen im idealisierenden Stil des Empire oder frühen Biedermeier, auch badende und belauschte Nymphen, ruhende Odalisken, die blütenbekränzte Venus mit Amoretten, deren liebreizende Nacktheit die Mythologie rechtfertigte, sind bevorzugte Motive dieser anspruchsvollen Gebrauchsobjekte. Doch diese wie alle auf den Stobwasser-Dosen erscheinenden Miniaturen bestätigen – das kann man im Vergleich zu Beispielen aus anderen Unternehmen sehen – den überragenden Rang, die gewahrte Noblesse und maltechnische Meisterschaft dieser Manufaktur.

Manufaktur von Weltgeltung

Sie war, wie Walter Holthausen schrieb, ein Kenner von Lackarbeiten und Direktor der Dresdner Kunstsammlungen, „die einzige deutsche Manufaktur von Weltgeltung“. Zahlreiche Motive, die die Dosen schmücken, sind geschickt in kleine Rundformen oder Rechtecke gebrachte Kopien nach zeitgenössischen oder älteren Meistern. Zum Beispiel nach Raffael („Madonna della Sedia“), Genreszenen, mythologische oder religiöse Darstellungen, Landschaften nach Niederländern und Flamen des 17. Jahrhunderts wie Terborch, Wouverman, Berechem, Adriaen van der Werff, Ostade.

Aber auch Angelika Kauffmann, die Gesellschaftskritiker Hogarth und Boilly wurden reflektiert. Auf dem Deckel eines größeren Spielkartons mit fünf Dosen entdeckt man das Bild „Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem“ nach Eduard Bendemann, dem Düsseldorfer Akademieprofessor.

Die Mehrfach-Ausführungen solcher Kopien zeigen, daß sich die Maler – für die bei Stobwasser eigens eine Schule eingerichtet war, um gleichbleibende Qualität zu garantieren – nicht exakt ans Vorbild hielten und auch in den Farben oft unterschiedliche Stimmungen anstrebten. Viele Motive, darunter Landschaften im Stil des Braunschweiger Malers Pascha Weitsch, entstanden eigens für die Manufaktur. Ihre Erzeugnisse wurden international verkauft. Leisten konnte sie sich nur die Oberschicht.

In einem aufwendigen und langwierigen Herstellungsprozeß wurden zum Beispiel für die Tabaksdosen 60 bis 70 in Leim aufgeweichte Papierbögen in die gewünschte Form gepreßt und getrocknet. Die Papiermaché-Masse war dann so fest wie Holz, hatte aber den Vorteil, daß sie als Träger der Malerei nicht wie dieses arbeitet und Risse bekommt. 20 bis 40 Schichten Firnis, die mehrfach geschliffen werden mußten, folgten, darauf fünf bis sechs in Öl getränkte Lackschichten, vor allem aus geschmolzenem Bernstein oder Opal. Auf diese Grundlackierung wurde dann die Öllackmalerei aufgetragen, darauf nochmals zehn bis zwanzig Schichten aus transparentem Lack, die das Dekor schützten und den Farben Brillanz gaben.

Kulturhistorische Einblicke vermittelt auch die Geschichte der Stobwasser-Manufaktur: Die Familie entstammte einem alten mährischen Adelsgeschlecht, das wegen seines evangelischen Glaubens im 17. Jahrhundert von seinen Gütern vertrieben wurde.

Geheimrezept für Lack

Daß dann aus dem armen, über Land ziehenden Hausierer Sigismund Stobwasser 1763 der erfolgreiche Gründer der Lackmanufaktur in Braunschweig unter Herzog Karl I. wurde, verdankte er seinem begabten Sohn Johann Heinrich Stobwasser: Der Siebzehnjährige erfand nach unermüdlichen Experimenten das „Arcanum“ (Geheimrezept), die Zusammensetzung eines hochwertigen Lacks. Das florierende Unternehmen, das auf Einladung Friedrichs des Großen auch eine Filiale in Berlin gründete, ging nach der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung und die Billig-Konkurrenz aus Ostasien zugrunde.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 4. Februar 1991