Yvonne Friedrichs Textforum

Kraft aus heimischen Bräuchen

Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert / Ausstellung in Köln

„Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ – diese chronologisch nach Stileinflüssen, nicht nach Ländern gegliederte, klar die wesentlichen Aspekte herausstellende Schau ist zur Zeit in zwei Etagen der Kölner Kunsthalle zu sehen. Für Europäer ist das Obergeschoß der eigentliche Ort der Begegnung. Dort schreitet man von geradezu atemberaubend packenden Sektionen der Pioniere der Moderne – unter dem Einfluß von Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus – aus Mexiko, Uruguay, Argentinien und Brasilien zu einer eigenen, gewachsenen, selbst in den 20 lateinamerikanischen Staaten nicht homogenen Kunst. Über die bekannten sozial engagierten „Mexikanischen Muralisten“ Orozco, Rivera und Siqueiros führt der Weg zu konstruktivistischen, neo-konkreten und op-artistisch-kinetischen Tendenzen. Im Untergeschoß sind dann Neu-Figuratives, Pop-art und unmittelbar zeitgenössische Installationen untergebracht.

Gleich zu Anfang wird man konfrontiert mit der Vielfalt individueller künstlerischer Reaktionen junger, aus der akademischen Tradition lateinamerikanischer Länder ausbrechender, seit etwa 1910 nach Europa strömender Künstler. In den von Temperament und Farben sprühenden, naiv-spontanen Bildern des Argentiniers Alejandro Xul Solar, der in München Klee und Kandinsky kennenlernte, vermischen sich konstruktive und mythische altindianische Traditionen mit kubistischen und expressionistischen zu vielschichtigen Aussagen („Heiliger Tanz“, „Welt“, „Nana Watzin“, 1923 – 1925). Zeigt schon Diego Riveras kubistisches „Porträt Martin Luis Gazmán“ von 1915 einige folkloristisch-brasilianische Elemente, so ist sein „Tag der Blumen“ von 1925 geradezu eine Beschwörung heimischer Bräuche.

Allenthalben besinnt man sich in den zwanziger Jahren auf die eigene Herkunft. In Brasilien ruft der Dichter Oswald de Andrade in seinem „Anthropophagischen Manifest“ dazu auf, die europäischen avantgardistischen Strömungen dem eigenen afroindianischen Kulturgut „menschenfresserisch“ einzuverleiben. Einzigartig und im Ausdruck überwältigend gelingt das der Brasilianerin Taarsila do Amaral in ihren monumental deformierenden und vereinfachenden tropisch-vegetativen Bildern; darunter „Abaporu“, „Die Negerin“ und „Anthropophagia“.

Renaissance der Wandmalerei

Auch die engagierte, in der Mexikanischen Revolution von 1910 wurzelnde „Renaissance der Wandmalerei“ seit den zwanziger Jahren ist in diesen alten Kraftquellen begründet, die den Menschen durch die Kunst wieder bewußt werden sollen; besonders bei Diego Rivera in seinen schlichten Darstellungen des bäuerlichen Lebens, während David Alfaro Siqueiros in düsteren Menschenbildern Leiden und Unterdrückung der Armen von einst und jetzt ins Unheimliche steigert und José Clemente Orozco die Grausamkeit und den Terror schildert, denen sie ausgeliefert sind.

Die intimen Kabinette für Maria Izquierdo und Frida Kahlo, die in ihrer traumhaften Melancholie, ihrem zum Bild geronnenen Schmerz zum Bewegendsten der Ausstellung gehören, leiten über zu den eigenartigen Versionen eines lateinamerikanischen Surrealismus, wie er vor allem durch die von André Breton mit initiierte große Internationale Surrealistenausstellung in Mexiko-City 1940 Impulse erhielt. Die erotisierten, durch schweifende Linien in Schwingung versetzten Räume des Chilenen Matta und die von Picasso nicht unberührten, aus geheimnisvollen Vorstellungen und Ritualen afro-kubanischer Glaubensvorstellungen erwachsenen Visionen von Wifredo Lam, dem Sohn chinesischer und afro-kubanischer Eltern, sind in großartigen Bildbeispielen vertreten.

Unter den mancherlei Varianten eines teils spielerischen (Arte Madi), teils streng-konkreten Konstruktivismus bezaubern vor allem die Bilder und reizvollen Holzkonstruktionen des in Uruguay geborenen Pioniers des lateinamerikanischen Konstruktivismus Joaquin Torres-Garcias, in denen sich die geometrische Grundstruktur der präkolumbischen Kunst erzählerisch und nicht ohne Humor mit stilisierten Figuren, Zeichen und Zahlen verbindet.

Die vorgeführte Op-Art und Kinetik, darunter von Soto, Cruz-Diez und Le Parc, durch die sich Lateinamerika seit den sechziger Jahren international profilierte, ist uns geläufig; auch der Kolumbianer Fernando Botero mit seinen prallen, die aufgeblasene Gesellschaft ironisierenden Figurenbildern oder Marisol aus Venezuela mit ihren in bemalte Holzklötze gebannten Figuren. Für die lebhafte Gegenwartskunst, die sich freilich von der europäischen kaum unterscheidet, hätte man sich lieber eine eigene Ausstellung gewünscht.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Feuilletonn, 19. März 1993