Yvonne Friedrichs Textforum

Riesige Hände tasten

Plastiken von Michael Schwarze in der Galerie Niepel

Plastiken von vollendeter klassischer Schönheit, die in bruchloser, folgerichtiger Konsequenz in die Phantastik des Surrealen umschlägt, beeindrucken in einer Ausstellung der Galerie Niepel in der Grabenstraße. Der jetzt 33jährige, aus Krefeld stammende Michael Schwarze erweist sich den Plastiken als einer der bedeutenden jungen Bildhauer der Gegenwart, der in den zehn Jahren seines stetigen Aufstiegs unbeirrt einen eigenen Weg verfolgte. Sein Werdegang ist imponierend und zeugt von der Intensität, mit der hier in einer langen Lehr- und Studienzeit auch formal ein hohes Können erworben wurde.

Er begann 1953 mit einer vierjährigen Tischlerlehre, gefolgt von einem zweijährigen Architekturstudium an der Werkkunstschule Krefeld. Anschließend besuchte Michael Schwarze fünf Jahre lang die Berliner Hochschule für Bildende Künste und war Meisterschüler von Professor Karl Hartung. Seit 1964 lebte er als freier Bildhauer in Berlin und wurde 1967 mit dem Villa Romana-Preis, 1969 mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker Berlin und dem Kunstpreis der Stadt Krefeld ausgezeichnet.

Eine große, ausdrucksvoll bewegte Hand ersetzt oft den Kopf von Schwarzes menschlichen Akten in Bronze oder weißem und bräunlich übermaltem Gips, deren Körper manchmal nur aus einem Bein besteht. Eine Hand, die sich schwermütig zum Boden neigt („Gebückter“) oder wie eine organische Schale die Äpfel des Paradieses umschließt („Eva“), die aus einer aufplatzenden Kugel bricht oder zur Stütze einer Kugel wird.

In flexibler Gestik und phantastischem Bewegungsspiel öffnet sich die Hand dem Raum, ist Trauma, Symbol, Ausdrucksmedium von Emotionen. Auch in einer Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen riesige Hände und Handfiguren durch Räume tasten, kriechen und Berührung suchen. Zu den schönsten plastischen Darstellungen gehören daneben ein unkonventioneller „Ikarus“ – eine am Boden liegende Figuration aus Kopf, Bein und Flügel – sowie ein sich aus einer aufbrechenden Säule lösendes Mädchen.

Verhaltene Tragik und Melancholie sprechen aus diesen verschlüsselten Bildwerken – menschlichen Situationen im Spannungsraum zwischen Verstricktsein, Beklemmung, Angst und Aufbruch in die Freiheit.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 3. Mai 1972