Yvonne Friedrichs Textforum

Verstehen statt Aburteilen

Yvonne Friedrichs sprach über „Kunstkritik heute“

Zum 50. Teenachmittag der Gesellschaft für christliche Kultur konnte der Erste Vorsitzende J. H. Sommer zahlreiche Gäste im Zweibrücker Hof begrüßen. Das besondere Interesse der Versammelten galt nicht so sehr der Feier der goldenen Fünfzig, als dem Vortrag der Journalistin und Kunstkritikerin Yvonne Friedrichs über das Thema „Kunstkritik heute“. Die Anteilnahme, die diesem Thema entgegengebracht wurde, läßt darauf schließen, daß viele Menschen, die der Kunst der Gegenwart sehr aufgeschlossen sind, doch vor der Schwierigkeit stehen, sie zu beurteilen, abzuwägen und Qualitätsunterschiede festzustellen.

Yvonne Friedrichs ging aus von der Überlegung, daß das echte Kunstwerk sich jeder rationalen Erklärung entzieht, daß folglich die Kritik sich auf Theorien weder stützen kann noch darf. Kunsttheorien wirken nach ihrer Meinung hemmend auf die Kunstkritik, legen ihr ein Korsett an und hindern ihre Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit wollte sie jedoch nicht sagen, daß der Kritiker nicht unbedingt über die ganze Kunstgeschichte unterrichtet sein müsse. Die umfassende Kenntnis der Kunst der Vergangenheit ist zwar die notwendige Basis für den Kritiker, aber entscheidender ist das Einfühlungsvermögen in das Werk des jeweiligen Künstlers, der Instinkt für das Originale, die Bereitschaft auf alles Neue zu reagieren, sich existentiell, mit der ganzen Person dem Kunstwerk hinzugeben. Yvonne Friedrichs verglich die erforderliche Vielseitigkeit des Kunstkritikers mit der des Schauspielers. Sie bestätigte auch, daß Kunstkritik immer subjektive Züge trug und trägt, lehnte aber jeden hemmungslosen Subjektivismus ab: „Dafür ist kein Platz mehr!“

Da die Kunstkritik von Anfang an soziale Funktionen gehabt hat, untersuchte die Referentin auch deren Aufgabe gegenüber dem heutigen Publikum. Sie kam zu dem Schluß, daß die Kunstkritik das Geistige in der Kunst aufzuspüren und zu vermitteln habe. Sie müsse die den meisten Menschen unverständlich gewordene Sprache der Kunst in eine dem Kunstwerk adäquate, aber dem Publikum wiederum verständliche Sprache übersetzen. Das sei nicht immer einfach, die bloße Information und Beschreibung, verbunden mit einer Schwarz-Weiß-Wertung, sei hier völlig verkehrt. „Die wortreiche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Sache.“ Um die Erlebnisfähigkeit des Publikums zu erweitern und zu bereichern, bedürfe es der Interpretation, der individuellen Reaktion und der Reflexion des Kunstwerkes. Nur das nachschaffende Erleben könne dem Publikum das Kunstwerk näherbringen und – bei der Bewältigung dieser Aufgabe könne der Kritiker selbst zum Künstler werden. Das unterscheidet ihn auch vom gefürchteten Kritiker der Vergangenheit. „Aber“, sagte sie, „verstehen ist auch schwerer als aburteilen“, deshalb müsse der Kritiker heute mit unschuldigen Augen dem Kunstwerk begegnen, es in seiner Eigengesetzlichkeit erfahren und aufnehmen.

D. H.
In: Rheinische Post, 15. März 1966