Yvonne Friedrichs Textforum

Glücklicher Gewinn

Das Museum Mülheim erbte die Sammlung Ziegler

Das 1906 gegründete Städtische Museum in Mülheim/Ruhr wird heute die bedeutendste und wertvollste Stiftung der gesamten Zeit seines Bestehens in Empfang nehmen. Der 1973 gestorbene Nobelpreisträger Prof. Dr. Karl Ziegler und seine 1980 gestorbene Frau Maria haben der Stadt Mülheim ihre seit den fünfziger Jahren erworbene Sammlung vermacht. Sie umfaßt hervorragende Werke der deutschen Expressionisten, darunter allein fünf von Macke, drei Arbeiten von Marc, fünf von Nolde, drei von Heckel. Von den Bauhaus-Künstlern sind Feininger, Klee und Schlemmer vertreten. Hinzu kommen Max Beckmann, Kokoschka, Picasso, Purmann, Utrillo, Moll, Hofer und andere. Insgesamt enthält die Stiftung 42 Werke, durch die das Mülheimer Museum in die vorderste Reihe der bundesdeutschen Museen rückt.

Hier wurde von Anfang an deutsche Malerei und Graphik des 20. Jahrhunderts gesammelt. Der bisherige, schon bedeutende Besitz an Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen der deutschen Expressionisten, zu dem die Dauerleihgaben von 15 Nolde-Werken und die Dr.-Schümann-Kollektion expressionistischer Graphik sowie die Pankok- und Gilles-Sammlung kommen, wird durch die Ziegler-Sammlung aufs beste ergänzt. Die Ziegler-Sammlung macht jetzt ein Drittel des malerischen Gesamtbestands des Museums aus.

Das Ehepaar Ziegler hatte seit 1943 in Mülheim gelebt, nachdem der später durch seine Erfindung des Kunststoffs mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Chemiker Prof. Dr. Karl Ziegler als Direktor an das Mülheimer Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung berufen wurde. Die treibende Kraft beim Ankauf der Kunstwerke ist vor allem Maria Ziegler gewesen. Der private, von ganz persönlicher Vorliebe und Begeisterung geprägte Charakter dieser Sammlung ist überaus anziehend und überzeugend. Fast alle dieser schon vielfach vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Bilder, Aquarelle, Zeichnungen sind in ihrer Qualität und in der unmittelbaren Frische den jetzt oft auf den Messen angebotenen drittklassigen Expressionisten weit überlegen.

Die meisten Bilder haben die Zieglers in der Zeit zwischen 1953 und 1973 gekauft. Schon in den sechziger Jahren, als die Preise um 500 bis 600 Prozent stiegen, wurde der Erwerb immer schwieriger. „Die lockere Sammlung des Museums, deren Lücken durch die Aktion ‚Entartete Kunst’ und die quantitativ begrenzte Produktion frühverstorbener Künstler wie Marc oder Macke kaum noch zu schließen waren, ist jetzt in der Kunst des 20. Jahrhunderts dicht und repräsentativ wie bei kaum einem anderen Museum in der Umgebung. Die Stadt wird daran denken müssen, für neuen Raum zu sorgen“, erklärte Museums-Direktorin Dr. Christel Deneke.

Die Ausstellung ist ein beglückendes Ereignis. Man erlebt den Aufbruch reinster Empfindung in der Malerei am Anfang unseres Jahrhunderts unmittelbar und wie neu. Die zauberhafte Macke-Gruppe etwa in ihrer Frische poesiereicher Farbenspiele mit dem „Staudacher Haus“ (Öl 1910/11) unter wogenden Baumkronen versteckt, der „Stickenden Frau“ (Öl, 1909) frontal im Biedermeierstuhl, mit träumerisch-kontemplativen Farbnuancen, einem strahlenden Tunis-Aquarell „Blick in eine Gasse“ (1914); oder – ganz zart und luftig – der „Begegnung“ (1912): einer Dame in Altrosa mit Federhut als reizende Zielscheibe vieler verstohlener Männerblicke, und „Bei den Papageien“ (1914, Aquarell), wo die fremdländisch-blauen Vögel mit roten Schwänzen die Szene wie wunderbare Erscheinungen beherrschen.

Franz Marcs „Schlafendes Reh“ (Tempera, 1914) und sein „Pferdekopf“ (Öl, 1914)- ein schlankes Hochformat, in dem der Kopf des Tieres über schwarzen Flammen erscheint und sich nach oben in illusionistische Farbkreise gleich seligen Gedanken auflöst. Von Schmidt-Rottluff sieht man ein herrliches „Seerosen“-Aquarell, blühend in den Tönen, schwingend in den Umrissen vor traumhaft blauem Grund, von Heckel eine Ansicht „Gent“ in Tempera (1924) mit lyrischen Spiegelungen. Noldes „Tänzerin“ in Aquarell (1908/09) ist eine berückende Vision ekstatischer Dämonie. Die Blumenstilleben gehören sicher zu seinen schönsten, wie das fast mystisch wirkende Aquarell „Anemonen und Kopf“.

Carl Hofers Tessinlandschaft „Carona“ (Öl) hat noch die Lockerheit des Strichs und atmosphärischen Zaubers seiner frühen Bilder und changiert in allen Tönen zwischen Regentrübe und Aufhellung. In Schlemmers „Bogenschützen“-Aquarell steht gleich einem Symbol die Frau im Zentrum der ihren Bogen gegenläufig spannenden Schützen. Symbolträchtig ist auch Max Beckmanns „Fischerfamilie am Strand“ (Aquarell, 1936) mit bewegten, schwarzen Konturen. Auf Altrosa, Grau und Schwarz ist Marie Laurencins Ölbild „Frau mit Fächer“ gestimmt, spontan hingetupft Utrillos „Vorstadtstraße“ (Öl), und in Klees bekanntem „Seiltänzer“ (signierte Lithographie von 1922) balancierte dieser einsame Spaziergänger der Luft als schwarze Silhouette über fragile Leiterkonstruktionen vor rosa Grund.

Auch einige Mülheimer Künstler sind mit guten Arbeiten in der Sammlung vertreten sowie der Düsseldorfer Maler Antonius von der Pas mit einer frühen kraftvoll-expressiven Landschaft.

YVONNE FRIEDRICHS
In: Rheinische Post. Feuilleton, 13. März 1981