Marie Luise Kaschnitz
Gedichte

Beschwörung

XIV
Liebende, des Lebens
Ungewohnte,
Heute nur und eben
Noch verschonte,
Endlich Euch Geschenkte
Für gemessene Zeit –
O, wie Euch bedrängte
Die Entschlossenheit,

Daß Ihr wart wie Sehnen,
In die Zeit gespannt,
Immer wartend, wähnend,
Daß ein Glanz und Brand
Herrlich ohne Namen
Wieder auf Euch falle,
Doch die Tage kamen
Und vergingen alle.

Alle Tage schwanden
Leer und ausgeweidet
Einer nach dem andern
Seiner selbst entkleidet,
Ausgelaugt, verschlungen,
Hoffnungslos zerfetzt
Von den Forderungen
Die Ihr aufgesetzt.

Enttäuschung übertönte
Die Leere mit Geschrei,
Verzweiflung trank und wähnte
Daß ihr Erfüllung sei,
Not hielt sich in den Armen,
Wunsch lag an Wunsch gepreßt
Und Lüge log Erbarmen,
Dieses sei das Fest.

Sieben Tage waren
Euch die Ewigkeit,
Sind dahingefahren
Als ein Staubkorn Zeit
Alle bis auf einen
Ohne Unterschied,
Der ließ die Sonne scheinen.
Ihr waret müd.

Und sahet nur das Ende
Als sei es schon so weit:
In Nebelfrühe stände
Der lange Zug bereit,
Von drinnen, draußen höhntet
Ihr schon einander an,
Ein Spuk, was ich ersehnte,
Ein Trug was ich gewann.

Doch Eure Blicke fielen
Leiser hin und her
Fast wie ohne Willen,
Süß und schicksalsschwer.
Und um Euch ging die Stille
Wie ein Engel durch das Land,
Bis endlich in der Stille
Ihr Euch erkannt.

XV

All diese Stimmen, ach
Warum beschworen?
Werden nicht allezeit
Trauben am Weinstock reif,
Kälber geboren?
Liegen nicht Dörfer weit
Über die Welt verstreut,
Herbstlich ermattet,
Füllt sich nicht jeder Tag
Wieder mit Ungemach,
angstüberschattet?
Tief in den Kammern stößt
Und rollt es nächtlich.
Noch sind wir unerlöst.
Tod ist allmächtig.

Nein, wir bedürfen nicht
Wieder der Kriege.
Heißt es gleich, Wiederkehr
Fiele, wie Pendel schwer:
Gesetze trügen.

Wenn wir nur üben dies
Fürchten und Lieben, dies
Ringen mit Gegenwart;
Bis sie zum Segen ward

Wird uns Besonnenes
Richtig belehren,
Werden wir Kommendes
Nicht überhören.

(aus: M.L.K.: Totentanz und Gedichte zur Zeit, 1947)