Sarah Kirsch
Gedichte

Bäume lesen

Der Regen fällt ins Grundwasser
anderen Nutzen
hat er im Winter nicht, es sei denn
ich bezög ihn auf Kiefern und Fichten
diesen nördlichen Bäumen
wird der Staub von Blüten und Wegen
jetzt gründlich ausgewaschen. Die Stämme
ziehen an mir vorbei (das ist übertrieben:
ich gehe den Weg lang) die Bäume sind Lettern, ich
beweg mich wie auf Papier, überspringe
mühsam den Zwischenraum, stolpere ein Zeichen nieder
das hier ist Nadelwald
kein Unterholz alles durchschaubar
von Zeile zu Zeile, der Boden voll Schnee
der kommt aus dem Regen, papierweiß
Eine merkwürdige Baumgruppe
offensichtlich vom Ausland (so
wächst es hier nicht) prellt vor, ich umkreise
sie mit langsamen Schritten: sechs Bäume
der erste am größten, das wär so ein Schiffsmast
ragt in den nicht sichtbarn Himmel, oben
ein Nebelfetzen, Rauch eines Dampfers
die Bäume liegen vertäut, ihrer Schiffsuhr
Zeiger zuckt auf die volle Stunde
ein Krachen ich fürchte mich nicht, ja
das sind Schüsse! jetzt geht es vorwärts
Kampfansage nach oben, nieder
mit Dummheit Ausbeutung Hunger, rot
leuchtet mein Wort
mit mir ein Wald!, Majakowski
bläst seiner Wirbelsäule die Flöte
ich lese: Aurora

(aus: S.K: Katzenkopfpflaster. Gedichte, 1978)