Gerda Kaltwasser Textforum

Ich gehe langsam durch die Stadt

23. Dezember 1978

Der Knabe auf dem Fahrrad, der sich zwischen den Sonntagsspaziergängern auf dem Niederkasseler Deich durchschlängelte, war seines Zweirads noch nicht ganz sicher. Er schwankte, kippte seitlich in eine Ackerfurche, stieß dabei mit Lenker und Pedal ein paar Fußgänger an. Sie klopften Erde von den Mänteln und lächelten. Auch der Knabe lächelte ein wenig verlegen, packte sein Rad und führte es ein paar Schritte, ehe er wieder aufstieg.
Es war ein japanischer Junge. Aber das ist bei uns in Düsseldorf, ist zumal im linksrheinischen Düsseldorf kein ungewohnter Anblick. Lambertus staunte vielmehr über die Spaziergänger, die, ohne zu schimpfen und zu meckern, über das Mißgeschick hinweggingen. Lambertus ertappte sich bei der Überlegung, was er wohl zu hören bekommen hätte, wenn es sich bei dem unsicheren jungen Radfahrer um – na, sagen wir mal um einen kleinen Düsseldorfer oder gar um einen kleinen türkischen oder griechischen Jungen gehandelt hätte.
Die Überlegung, meint Lambertus, ist erlaubt. Denn es ist schon bewerkenswert, wie unterschiedlich wir reagieren. Lambertus will sich da nicht ausnehmen. Unsere japanischen Mitbürger, die Kinder vor allem, bekommen eine gehörige Sympathievorgabe. Sie wirken nicht so sehr exotisch als vielmehr freundlich, diszipliniert, ruhig. Ein kleines Mißgeschick löst da kaum Unmut aus.
Wäre es ein deutscher Junge gewesen, der Bengel wäre gehörig ausgeschimpft worden. Jedenfalls wäre hinter ihm her geschimpft worden: „Wieder einer von diesen Burschen, die keine Rücksicht kennen, keine Achtung vor Erwachsenen haben, sich alles herausnehmen . . .“ Kennen wir’s nicht alle, was da so auf die Kinder von heute gehäuft wird? Und bei „diesen Gastarbeiterkindern“, da hört doch schlichtweg alles auf, die sind ja – da fehlen einem die Worte. Was wohl das Schlimmste an Mißachtung ist, was wir zu bieten haben.
Die Konsequenz? Lambertus meint, daß Sympathievorgabe allen Kindern gehört. Auch den Rüpeln? Schimpfende Erwachsene sind für sie kein anfeuerndes Beispiel. Diesen nicht nur weihnachtlichen Gedanken gibt zu bedenken

Lambertus
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 23. Dezember 1984