Gerda Kaltwasser Textforum

Stoßseufzer nach dem „Goldenen“

„Wat dem enen sin Uhl, is dem andern sin Nachtigall“

Es war gestern mittag. Miesbachs hatten gerade gegessen, als Frau Miesbach einfiel, daß sie für ihre Schwester und ihr Patenkind noch kein Weihnachtsgeschenk eingekauft hatte. Nur widerwillig ließ sich Herr Miesbach dazu bewegen, den Wagen aus der Garage zu holen. „Kannst du denn nicht morgen einkaufen?“, fragte er. „Morgen sind die besten Sachen weg“, antwortete sie. Er hätte nun zwar entgegnen können, daß die besten Sachen inzwischen sowieso weg seien, aber aus langjähriger Erfahrung erlegte er sich Schweigepflicht auf. Miesbachs fuhren also in die Stadt.
Zur gleichen Zeit, als Miesbachs losfuhren, wischte sich die Kriegerwitwe Maria Hansemann mit dem bloßen Arm die Haare aus dem geröteten Gesicht. Es war nicht einfach für sie, den elfjährigen Hans und die dreizehjährige Grete und schließlich sich selbst mit anständigem Essen, warmer Kleidung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Von den sieben Tagen der Woche wusch sie an sechsen, und sonntags bügelte sie die Oberhemden für die Herren aus dem Appartementhaus nebenan. Aber heute Nachmittag musste sie unbedingt Weihnachtseinkäufe machen. In dieser Woche würde sie von morgens sieben bis abends acht am Waschtrog stehen. Grete brauchte eine warme Strickjacke, und Hans sollte endlich den sehnlichst herbeigewünschten Fußball bekommen. Frau Hansemann zog also den Mantel an, den Frau Miesbach ihr im vorigen Jahr aus ihren getragenen Sachen ausgesucht hatte und versuchte, sich ein Plätzchen in einer der überfüllten Straßenbahnen zu erobern.
Zur gleichen Zeit, als es Frau Hansemann endlich glückte, die Mauer der zum Wildwestfilm strebenden Jünglinge und stadtfein bestrumpften und behüteten jungen Mädchen vor dem Eingang der Straßenbahn zu durchbrechen, zur gleichen Zeit also ließ sich Frau Miesbach im Schirmgeschäft Regenfein, dem elegantesten Geschäft am Platze, den fünfzehnten Regenschirm, diesmal mit Elfenbein-Silber-Krücke vorführen. Die Verkäuferin, Fräulein Immernett, zeigte jenes strahlende Lächeln, von dem man ihr in der Lehre eingeprägt hatte, es sei bares Geld wert. So kann man Frau Miesbach nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, daß sie nicht voraussah, was sich in den nächsten Minuten ereignete.
Fräulein Immernett war eine gute Verkäuferin, sie steckte mit Leib und Seele im Weihnachtsgeschäft. Sie hatte darum schon seit Wochen kaum etwas Warmes zu essen gekriegt und zahlreiche Überstunden gemacht. Gerade als sie einen entzückenden grauweißkarierten Damenschirm mit schlanker Goldkrücke – es war der 18. – vor Frau Miesbach entfaltete, verschwamm die Menge der murrenden, wartenden Frauen vor dem Ladentisch zu einer schwarzen, wogenden Masse, einem Riesenpolypen. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie sich zu Frau Miesbach sagen hörte: „Jetzt lassen Sie mich endlich mit ihren Schirmen zufrieden. Sie dumme Gans, lassen Sie sich doch naßregnen, das ist viel gesünder.“
Und dann sah Fräulein Immernett sich vor dem Chef stehen. „Meine beste Kundin haben Sie vertrieben mit ihrer Hysterie. Sie sind fristlos entlassen.“
„Gott sei Dank“, konnte sie nur noch sagen, aber dann bekam sie einen Stoß in die Seite. „Was ist denn, Fräulein Immernett, nun machen Sie schon voran, die Dame möchte den Schirm kaufen.“
Fräulein Immernett öffnete erschreckt die Augen und gab schnell den Schirm zur Kasse, den sie wie ein Damoklesschwert über das Haupt der verdatterten Frau Miesbach gehalten hatte.
Inzwischen war es 18 Uhr geworden, Fräulein Immernett schickte einen Stoßzeufzer zu dem Rauschgoldengel überm Ladeneingang. „Noch eine Woche!“ Dann würde sie vielleicht an den zwei stillen Festtagen ein bisschen von jener Energie, jenem Charme zurückgewinnen, der sie in den Augen ihres Chefs zu einer so vorzüglichen Verkäuferin macht.

Viola
In: Düsseldorfer Nachrichten, Lokalspitze, 19. Dezember 1955