Gerda Kaltwasser Textforum

Absage an Vorurteile

Wenn der Ausflugsjet, von Abu Simbel kommend, in der Morgenfrische bei Assuan landet, wird Touristen manchmal ein Anblick zuteil, den die Pharaonen während viertausendjähriger Herrschaft in Oberägypten nicht kannten, der noch vor einer Generation undenkbar war: Weiße Wolken machen der jungen Sonne das Himmelsblau streitig. Die Wolken, die manchmal sogar etwas Niederschlag bringen, entstehen über dem Nasser-See, dem See, der durch den neuen Assuan-Staudamm entstanden ist. Noch immer sind die Ägypter stolz auf ihren Staudamm. Die Bewunderung der Touristen für dieses Werk ist ebenso berechtigt wie für die kaum mit Laiensinnen erfaßbare Leistung, mit der der Tempel von Abu Simbel mit seinen riesigen Steinfiguren versetzt wurde, ehe sich der See mit Nilwasser füllte.

Aber die Diskussion über den Nutzen des Staudammes entbrennt immer heftiger. Der Nutzen, den er der seit Jahrtausenden fruchtbaren, aber auch allen Wetterabweichungen ausgelieferten Uferregion des Nils bringen sollte, steht gegen die Zerstörung eines Gleichgewichtes auf biologischem Gebiet, das von den Anbaumethoden der Fellachen in den letzten sechstausend Jahren kaum ins Wanken gebracht worden ist. Die Methoden haben sich nicht geändert, mit dem Holzpflug wird gepflügt, mit der Hand gesät, mit Wasserrädern und der Archimedischen Schraube Wasser auf die Felder geleitet. Mit der Sichel wird geerntet. Dahinter droht das Wunderwerk des Staudamms. Er läßt das Wasser stetig fließen. So stetig, daß der Grundwasserspiegel ständig ansteigt und Tempelbauten wie den von Medinet Habu in Gefahr bringt. In spätestens zehn Jahren wird der Tempel, der 3000 Jahre überdauert hat, zerstört sein. Eine Rettung würde Milliarden Ägyptische Pfund kosten. Omm Seti allerdings, eine Engländerin von 82 Jahren, die sich so in Geschichte und Religion des Pharaonenreiches hineingelebt hat, daß sie als Staatsrentnerin neben dem Tempel wohnen darf, weiß billigere Rettungswege. „Man müßte einen künstlichen See zwischen Nil und Tempel anlegen, um das Grundwasser aufzufangen und abzuleiten. Aber das wollen die Leute in den Dörfern nicht. Sie fürchten, ihre Kinder fallen hinein und ertrinken. Dabei haben sie so viele Kinder.“ Den Einwand, die vielen Kinder seien die Lebensversicherung des armen Mannes, weil von den vielen viele sterben, läßt sie nicht gelten. „Hier stirbt kein Kind mehr, dafür sorgen kostenlose Schutzimpfungen und die medizinische Versorgung. Meine Nachbarn haben zehn, zwölf Kinder, und die werden alle groß.“

Touristen, die – meist in Gruppen – durch Ägypten reisen, haben überall Gelegenheit, den Aufprall von Entwicklungen der letzten zwanzig, der letzten zehn Jahre auf Jahrtausende alte Strukturen kennenzulernen. Vielen ist das gleichgültig. Sie wollen Sonne, Erlebnis, alte Kultur in faßbarer Dosierung und mit Komfort. „Man sollte die Einheimischen aussperren, wenn die Touristen kommen“, sagten Mutter und Tochter auf der Bananeninsel im Nil bei Luxor. Die beiden deutschen Touristinnen fühlten sich, wie viele andere Touristen, von der „Bettelei“ der Plantagenarbeiter und ihrer Kinder so belästigt, daß sie keinen anderen Ausweg wußten. Eine siebzigjährige Deutsche las den beiden in biblischem Sinn die Leviten: „Wir sind hier die Eindringlinge.“ – „Ja, aber wir bringen das Geld. Wir, die westlichen Touristen.“ Wir waren es wohl auch, die dem kleinen Mädchen im Nubierdorf als erste das Zicklein in den Arm gedrückt haben, um die niedliche Idylle zu fotografieren. Jetzt kommen die Kinder mit den Zicklein an die Touristen-Busse und sagen „Foto, Foto“. Und halten schmutzige Kinderhände auf, während die Fliegen in den Augenwimpern sitzen. Aber gegen die Augenkrankheit gibt es Medikamente und das Betteln ist wirklich sehr lästig. Das müßten diese Leute doch merken...

Die nach westlicher Vorstellung ungewohnten Verhaltensweisen der Ägypter verleiten viele Touristen zu Fehlschlüssen und Fehlverhalten. Es ergeht ihnen wie den ersten Spanientouristen vor 25 Jahren in den engen Gassen Barcelonas - sie wagten sich nur mit stoßbereit geballter Faust in der Tasche voran. Der Deutsche, durch lange Isolation von der übrigen Welt nur noch an seinesgleichen gewöhnt, vermochte „fremdländische“ Typen nicht mehr einzuschätzen.

So ergeht es vielen, selbst weitgereisten deutschen Touristen in Ägypten. Die Freundlichkeit der Menschen dort läßt sie unsicher werden, ihr ständiger Drang zum Feilschen bewirkt Unwillen bis zur Bösartigkeit. Viel zu hohe Erstforderungen für minderwertige Ware bringt vielen das Wort „Betrüger“ auf die Lippen. Das absolute Chaos des Kraftfahrzeugverkehrs in der 12-Millionen-Stadt Kairo jagt dem ampelgesteuerten Westler ebenso einen Schauer über den Rücken wie die Menschentrauben, die an den roten Linienbussen hängen, die mit zerbrochenen Fenstern und oftmals nur noch an ein paar Drähten hängenden Motoren durch die Stadt jagen. Dazu die Menschenpulks auf den Vorortzügen, auf den Dächern der Überland-Taxis. Auf dem Dach ist es billiger.

Da stellt sich Aufatmen ein, wenn eine Kamelkarawane, beladen mit frisch geernteten Zuckerrohrbündeln, über die Straße zieht oder der Fellache auf eilig trippelndem Eselchen gegen Abend vom Feld heimkehrt.

Aber das Offensichtliche täuscht. Das Verkehrschaos in Kairo löst sich immer wieder auf, meist sogar ohne schwere Unfälle. In den engen schlecht gepflasterten Straßen geht auch der touristische Einzelkämpfer, ob Mann oder Frau, sicherer als in mancher mitteleuropäischen Großstadt. Eigentumsdelikte oder gar solche mit Körperverletzung gegenüber Fremden sind selten. Viel häufiger ist Höflichkeit und herzlich einladendes Lächeln. Auch in den ärmsten Gegenden, auch dort , wo magere Ziegen, zerrupftes Federvieh zwischen den armseligen Häusern am Stadtrand umher rennen.

Je entfernter vom Tourismus, desto weniger Aufdringlichkeit, desto mehr freundliches Entgegenkommen. Versuchen Sie es mal mit einem mühsam erlernten ägyptischen Grußwort in einer dieser schmutzstarrenden Gassen – eine schönere Steigerung des Selbstwertgefühls durch aufmunternde Zurufe ist kaum vorstellbar. Meist werden Sie gleich eingeladen, zu Tee oder Kaffee. Nehmen Sie an. An Postkartenständern sind überall Ansichtskarten mit dem Bildnis von Staatspräsident Sadat zu sehen. Sie brauchen nicht zu kaufen. Aber sagen Sie, daß Sie Sadat für „a good man“ halten. Der Verkäufer wird Ihr Freund sein. Aber versuchen Sie nicht, einem Mann in den Arm zu fallen, der bettelnde Kinder mit Stockhieben von tankenden Touristenbussen fernhält. Man würde Sie nicht verstehen.

Begriffe wie Schmutz und Elend erhalten in Ägypten andere Dimensionen. Der Kampf gegen Sand, Lehm und Abfall stellt sich als Unternehmen dar, gegen das die Säuberung des Augiasstalles durch Herkules wie ein Kindergartenspiel erscheint. Aber auf jedem Balkon auch in den ärmsten Straßen weht ständig frisch gewaschene Haus- und Körperwäsche. Die Mütter kämpfen den endlosen Kampf immer neu, genau wie die müden alten Esel der Kairoer Müllabfuht.

Auch das Elend hat andere Gesichter. Es muß niemand hungern. Obdachlose, die auf Straßen und Plätzen schlafen, gibt es kaum.

Reisen in Ägypten setzt nicht so sehr Toleranz als vielmehr Einfühlungsvermögen und Absage an Vorurteile voraus. Reisen in Ägypten bringt menschlichen Gewinn, denn es läßt uns ein Volk kennenlernen, daß unter der Last der Schwierigkeiten seinen Stolz nicht verloren hat. Nicht jeder Ägypter heißt Hassan oder Mohammed, sowenig wie jeder Deutsche Fritz heißt. Aber jeder Ägypter fühlt in sich noch das Blut der Pharaonen, deren wunderbare Tempel und Gräber, deren Fertigkeit im Ausnutzen der Gaben der Natur und hochentwickelten menschlichen Geistes wir heute noch staunend erleben, im Ägyptischen Museum, das eine klägliche Rumpelkammer und ein Zauberberg märchenhaften Ausmaßes ist; zwischen den Pyramiden von Gizeh bei Sonnenuntergang, in den Tempeln von Luxor und im Tal der Könige bei sengender Mittagshitze, bei Sonnenaufgang im Sand vor den Felsengöttern von Abu Simbel. Es kann nicht überraschen, wenn auch dieser Pharaonenvergangenheit, der mancherlei Fremdherrschaft, dann die große Umwälzung durch den Islam und dann wieder Fremdherrschaft folgte, - wenn aus den Erfahrungen von 6000 Jahren Geschichte eine neue Religionsphilosophie erwächst, eine von der „Dreieinigkeit“ aus pharaonischem Jenseitsglauben, hebräisch-christlicher Hinwendung zum Jenseits und mohammedanischem Prophetentum. Und daß diese versöhnende Philosophie durch den jungen Ägyptologen Wahit aus Kairo nahegebracht wird. Er kennt übrigens auch das alte Geheimzeichen gegen Schlangen und Skorpione. Es wirkt, selbst wenn man es nur in den Sand malt. Wahit hat es als junger Archäologiestudent selbst ausprobiert.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Touristik, 26.02.1980