Gerda Kaltwasser Textforum

Masuren – noch ein Stück der alten Welt

Das Reiseland Polen ist zu entdecken, jetzt, da die ärgsten Versorgungsschwierigkeiten beseitigt sind. Im Sommer locken Ermland, Masuren mit Seen und Wäldern. Der Zwangsumtausch wurde abgeschafft. Wenn auch die Preise ständig steigen, für den Touristen aus dem Westen sind Lebensmittel, öffentliche Verkehrsmittel und Kfz-Treibstoff noch immer unvorstellbar billig.

Auf dem Bahnhof von Preußisch-Eylau, dem heutigen Ilawa, standen unsere Freunde mit frisch gepflückten Feldblumensträußen. Der Hausherr begrüßte die Damen mit dem in Polen auch heute noch selbstverständlichen Handkuß. Wir hatten eine angenehme Reise hinter uns. Der Ferien-Autoreisezug, den TUI in Hannover einsetzt, erspart dem westlichen Autotouristen in Richtung Polen die noch immer aussichtslose Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit in der DDR oder im polnischen Grenzgebiet. Der Zug setzt sich gegen 21 Uhr in Bewegung, jedes Abteil enthält vier Liegemöglichkeiten, Frühstück ist im Preis enthalten.

Durch die Grenzformalitäten nachts wird der Reisende kaum geweckt. Freundliche Grenzbeamte werfen einen kurzen Blick auf Visum und Reisepaß. Der Zugbegleiter hat schon vorher die Kraftfahrzeug-Papiere kassiert, falls der Zoll eines der Autos inspizieren will. Es passiert so gut wie nie. Der Zugbegleiter gibt auch wichtige Ratschläge. Er hilft sogar, wenn jemand mitten in der Nacht entdeckt, daß er ohne Visum unterwegs ist. Die Sonne strahlt auf die von den Rungenwagen rollenden westdeutschen Autos und auf einen liebevoll restaurierten Bahnhof aus der Jahrhundertwende.

Kaffee nach Gramm

Hier werden wir in 14 Tagen unsere letzten Sloty in Hefeteilchen, polnische und albanische Zigaretten, in glühheißen Kaffee (es gibt ihn in zwei Qualitätsstufen, das Kaffeemehl wird nach Gramm abgewogen) und einen letzten Teller Bigosch, Sauerkraut, umsetzen. Jetzt ist keine Zeit. Außerdem haben unsere Gastgeber in Kühltaschen und Thermoskannen alles dabei für ein Picknick. Die beiden, vor zehn Jahren aus politischen Gründen zu Frührentnern gemacht, müssen sparen. Draußen essen und trinken ist zu teuer. Für sie. Wir hingegen halten unsere tausende Slotyscheine in Händen und wissen nicht, wie wir sie loswerden sollen. Daß das Leben so billig sein kann…

Mitreisende, soweit sie ohne Auto unterwegs waren, hatten schon ab Grenze an jeder Station den Zug verlassen. Ältere Leute waren es meist, oft in Begleitung der Kinder. Für die einen war es Heimkehr, für die anderen erste Begegnung mit einer anderen Welt. Niemand gab lautstark Ansprüche zum besten. Viele aber schwärmten vom Land ihrer Jugend. Eine Schwärmerei, die drei Düsseldorfer auf der Fahrt ins Ermland und nach Masuren schon vom Zug aus teilten.

Allenstein, das polnische Olstyn, ist die größte Stadt in Ermland und Masuren, eine Industriestadt mit den fürchterlichen Miethauskomplexen, wie sie die Stadtränder hüben wie drüben, wenn auch häßlich in unterschiedlichen Graden, markieren. Mrogowo, das frühere Sensburg, liegt landschaftlich reizvoll, hier gibt es ein Vier-Sterne-Hotel am Wasser, mit allen Sportmöglichkeiten. Die Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück kostet fast 200 Mark. Busausflüge in den nahen Wallfahrtsort Heiligelinde, ins fernere Danzig, aber auch nach Masuren, wo es am ursprünglichsten ist, nach Augustow oder Suwalki zum Beispiel, werden angeboten.

Wir wohnen in einem Knusperhäuschen mitten in einem Wald, der nur an einer Stelle einmal endet und in weite, sorgfältig bestellte Felder übergeht. Zum Schwimmen haben wir in unmittelbarer Nachbarschaft die Wahl zwischen der Kleinen und der Großen Babant, zwei Seen, in denen sich die Wipfel von Eichen, Birken, Fichten spiegeln, aber auch die gestreckten Silhouetten fliegender Störche, die auf der Suche nach der nächsten Heumahd sind. Wo gemäht wird, finden sich reichlich Mäuse. Reh- und Rotwild kommt allabendlich in die Nähe des Knusperhäuschens. Nachbarskinder bieten frischen Fisch aus den Seen an, Aale, Karauschen, Schleien, sicher ein wenig am Rand der Legalität der Natur abgeluchst.

Diese Natur ist ein Kapital, eines, das sich durch Brachliegen verzinst. Viele Polen, die nachdenklichen vor allem, wissen das. Sie möchten vorsichtig, nicht überstürzt vorgehen. Möchten die touristische Zersiedelung verhindern. Herrliche Campingplätze in Wäldern und an Seen gibt es bereits. Walderdbeeren und Pfifferlinge gedeihen üppig ringsum. Bienenzucht und Honigproduktion haben einen hohen Standard. Niemand muß mehr hungern, am wenigsten die Touristen.

Das Straßennetz ist ausgezeichnet. Ein paar weitere Hotels sind wünschenswert. Aber nur an ganz wenigen Stellen sollen Feriendörfer entstehen. Die westdeutsche Tourismusindustrie hat längst bei den Gemeindeverwaltungen angeklopft, hat goldene Berge versprochen. Bisher weitgehend vergebens. Wie lange noch in einem Staat, dessen Finanzkraft erschöpft ist?

Die Polen sind Meister im Ergreifen von Gelegenheiten. Das ist die einzige Überlebensstrategie für den Einzelnen. Wenn es keinen Kitt gibt, werden die Scheiben eben mit gut ausgekautem Kaugummi aus den Paketen westlicher Freunde befestigt. Aber solche Improvisationskunst hilft der Volkswirtschaft nicht auf die Beine. Jeder kauft nur das Allernötigste, weil das Nötige zu teuer ist. Deshalb ist der Versuch unserer beiden 60jährigen Freunde, es beruflich noch einmal in der freien Wirtschaft zu versuchen, ein Drahtseilsakt ohne Balancierstange.

Not in den Städten

Die große Hoffnung der Polen ist die Bundesrepublik. Enttäuscht haben sie sich von ihren traditionellen Freunden Frankreich und England abgewandt, von denen sie sich in Notzeiten betrogen und übervorteilt fühlten. Die DDR, das ehemalig sozialistische Bruderland, ist ihr Freund auch nicht, in Polen wird das sehr klar gesehen. Werden wir, können wir im Westen die Hoffnungen erfüllen?

25 Prozent Preissteigerung in einem halben Jahr bei knapp 100 Mark Rente. Ist damit zu leben? In den Städten werden die Touristen immer wieder um ein paar Mark angesprochen, in deutscher Sprache von alten Leuten, die mit dieser Rente leben müssen. Auf dem Land ernten die meisten in Feld und Garten, was sie brauchen. Dort klappt auch die übrige Versorgung besser, etwa mit T-Shirts aus China und Rotwein aus Spanien. Weil Stadt und Land nach dem Gießkannenprinzip versorgt werden, auf dem Land aber keiner so etwas kauft.

Außer Deutsch wird von der älteren Generation Französisch, von der jüngeren oft Englisch gesprochen. Ohne Vergleiche zu ziehen, ohne das Aufrechnen des nicht Aufrechenbaren werden in Gesprächen Erinnerungen wach. Erinnerungen an böse Erfahrungen mit Nazis wie mit sowjetischen Unterdrückern. Und es gibt nicht wenige Polen, die „könnten auf einem deutschen Paß bestehen“. Aber sie wollen Polen bleiben in der Hoffnung, daß ihr Land alle Schwierigkeiten überwindet.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal , 4. August 1990