Gerda Kaltwasser Textforum

Reif für die „Insel“

Ein Abend über den Schelm Albert Vigoleis Thelen

Auf einer Wolke schweben Hermann Harry Schmitz (HHS), Heinrich Böll und Albert Vigoleis Thelen (AVT). Sie packen sich an den Händen, tanzen im Kreis herum und singen wie die sieben Geißlein im Märchen: „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot.“ Auf der Wolke nebenan sitzt Heinrich Heine und weiß nicht, ob er mitlachen oder mitmachen soll. Jedenfalls ist er nicht der Wolf, über dessen Tod die drei toten rheinischen Dichter und dann auch der vierte, größte, Heinrich Heine, lachen. Der tote Wolf ist die Gruppe 47.

Die hatte damals, zu Anfang der fünfziger Jahre, mehrheitlich das altertümliche Deutsch des 50-jährigen Emigranten Albert Thelen mit dem seltsamen zweiten Vornamen Vigoleis abqualifiziert. Bestsellerautor ist er, der 1989 im Alter von 86 Jahren starb, nicht geworden, wohl aber Geheimtipp, Kultautor vieler Mallorca-Reisender.

Seine „Insel des zweiten Gesichts“ wurde von Thomas Mann, angeblich auch von Adenauer geschätzt. In den siebziger Jahren entdeckte den gebürtigen Süchtelner die RP-Literaturkritikerin Lore Schaumann wieder. Und jetzt erlebten seine „Insel“ rund fünf Dutzend Thelen-Freunde und solche, die es bestimmt werden, im Heinrich-Heine-Institut.

RP-Feuilletonredakteur Lothar Schröder, der einen großen Teil seines Studiums Thelen gewidmet hat, sorgte für Einblicke in und Anmerkungen zur 900 Seiten starken „Insel“. Die Rezitatorin Ursula Jung rezitierte und ließ dabei innige Verbundenheit mit dem Text erkennen.

Thelen, der von allen literarischen Moden unabhängig schreibende Zeitbeobachter, gehört nach Meinung Schröders – und wer wird die nicht nach dem auf anderthalb Stunden eingedampften AVT teilen – zu den begnadeten schreibenden Schelmen (wie Böll und HHS) – was nicht zu „schelmisch“ verkleinert werden sollte. Dazu hatte der Niederrheiner, den es Ende der Zwanziger nach Mallorca verschlug, auch keinen Grund.

Übrigens nächtigte er damals in Valldemosa auf einer Matratze, auf der zuvor die üppige Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey geschlafen hatte; die Matratze der 100 Jahre früher dort geschlafen haben sollenden französischen Schriftstellerin, Chopin- und Heine-Freundin George Sand verschmähte er. Nach Nazideutschland wollte er nicht zurückkehren, vor Francos wie vor Hitlers Häschern musste er mit Ehefrau Beatrice durch halb Europa fliehen. Und als er schließlich in die Heimat zurückkam, wurde er von den jüngeren Schreibgenossen als hoffnungslos altmodisch, um nicht zu sagen als alters-schwatzhaft beiseitegeschoben.

Die Fülle eines fast neunzigjährigen Lebens in einem Jahrhundert, das nur aus Umbrüchen bestand, wurde von dem rheinisch ungehorsamen Katholiken Albert Vigoleis vor allem in seiner „Insel“, aber auch in wunderbaren Gedichten gedeutet. Lothar Schröder wiederum schaffte es, uns auf den Gipfel des Bergriesen Thelen heraufzuziehen, ohne dass wir außer Atem kamen; ein kundiger Führer und ein Schelm dazu. Denn er lässt uns mit dem Hinweis allein, dass Schelm Thelen auch mal lügt, wenn es seiner Meinung nach der Wahrheitsfindung dient.

Und es bleibt noch viel zu tun, die 15 000 in aller Welt verstreuten Thelen-Briefe zu sammeln und zu sichten, so wie es immer noch mit der „Insel“ in der Hand auf der Insel den Schelmen AVT wiederzuentdecken gilt.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 30. November 2000