Gerda Kaltwasser Textforum

Altern – ein bohrender Abschiedsschmerz

Arno Schmidts nachgelassener Roman „Julia, oder die Gemälde“ - Tippfehler oder Verschreiber aus Absicht?

Prinzessin Julia tritt aus einem Gemälde im großen Saal des Bückeburger Schlosses. Sie, ein Nymphchen, eine Lolita, tritt damit in das Leben, wird Ziel sehnsüchtiger Gedanken und Gefühle eines 65jährigen Schriftstellers namens Leonhard Ihering, könnte auch heißen: Arno Schmidt.

„Julia, oder die Gemälde“ ist der Titel des nachgelassenen, unvollendeten Werkes von Arno Schmidt, der Anfang Juni 1979 im Alter von 66 Jahren gestorben ist. Die Arno Schmidt Stiftung hat das Werk im Haffmans Verlag veröffentlicht (100 Seiten, Personenverzeichnis, Planskizze, DM 130,-, Vertrieb über 2001-Versand) im Großformat als unkorrigiertes Schreibmaschinenmanuskript, wie Schmidt es über 100 DIN-A-3 Seiten hinterlassen hat. Also auch mit Fehlern, die dem Leser das zusätzliche Vergnügen verschaffen, herauszurätseln, ob ein beabsichtigter Verschreiber des Autors vorliegt, der dieses Vexiermittel liebt, oder ob er tatsächlich unbeabsichtigt danebengetippt hat. Unbeabsichtigt gewiß auf Seite 74, wo zweimal ein „daß“ als „das“ getippt steht – Genugtuung für einen Redakteur, dem im Zeitalter der neuen Technik (der Journalist als sein eigener Setzer und Korrektor) ein solcher Vertipper sofort als mangelnde Kenntnis in der Orthographie angelastet wird.

Kaum erschienen, hat das Buch höchst widersprüchliche Urteile ausgelöst, ganz abgesehen vom Streit über die Herausgaberechte zwischen Haffmans Verlag und dem Verlag S. Fischer, in dem die meisten Schmidt-Werke, vor allem die Taschenbücher, herausgekommen sind.

Die einen sind enttäuscht vom immer bitterer und besserwisserischer werdenden Ton des Schriftstellers, von seiner Neigung zu einer Art Alters-Lüsternheit. Andere zollen dem immer noch verblüffenden Universalgeist, dem „Gehirntier“, vorsichtige Hochachtung. Viele sind verwundert, in Arno Schmidt, dem Mann der Mathematik, der pedantischen Genauigkeit, der Detailbesessenheit, einen Romantiker zu entdecken, einen, der nicht nur seinem Hang zu gefürchteter Ironie freien Lauf läßt, wie sie den Romantikern eigen ist, sondern einer, der auch nach romantischer Art ein bißchen spinnt(isiert).

Doch erstaunen kann das nur jene, die Arno Schmidt „gekettet an Daten und Namen“ sahen, wie der Titel eines literaturwissenschaftlichen Werkes über ihn lautet. Wer ihn vorbehaltlos gelesen hat, geriet immer schon ins Jubeln über eine bis ins Weltall blühende Phantasie, die etwa aus „KAFF, auch Mare Crisium“ mehr machte als einen beim Eintritt ins Raumfahrtzeitalter genau berechneten kritischen Roman. Und wer die dankenswerterweise vom 2001-Verlag herausgegebenen, von Arno Schmidt entdeckten „Haidnischen Alterthümer“ gelesen hat, dem mußte sich Schmidt als gar nicht einmal „heimlicher“ Romantiker offenbaren. Die literarische Romantik als Nährboden der Science Fiction, auch das ist eine Entdeckung Arno Schmidts (Ludwig Tieck: „Die Vogelscheuche“, Johann Karl Wezel: „Belphegor“).

Er macht es anfangs mit „Julia“ seinen Lesern nicht leicht. Tatsächlich ist er, der immer seine Stacheln gegen zuviel Öffentlichkeit gesträubt hat, zuletzt gallenbitter in seiner Bargfelder Abgeschiedenheit geworden. Und wo man beim Lesen lachen möchte, wird ein sarkastisches Krächzen draus. Das nicht ohne Selbstgefallen ausgebreitete enzyklopädische Wissen, das auch Entlegenstes umfaßt, läßt den normal Wissenden zurückschrecken vor dem Schmidt-Berg. Und wie schafft er es, zum Donnerwetter, in seinen Büchern immer wieder eine menschliche Gesellschaft aufzutreiben, die seinem Wissen halbwegs gewachsen ist, selbst wenn es sich im Gruppenbild der weniger handelnden als redenden Personen um die Rollenträger des alltäglichen Mittelmaßes handelt?

Doch plötzlich, nach Abwehr, nach Verärgerung über scheinbare Menschen- und Zukunftsverachtung, wirkt der alte Schmidt-Zauber, wird der Leser in den Sog eines Denk- und Fühlprozesses gezogen, der ihn nicht mehr losläßt. Er entwirrt immer leichter das kunstvolle Gespinst aus Realität und Überwirklichkeit, platter Sex entwickelt sich zu wehmütiger Erotik, immer wieder schimmert für den, der gerade am Anfang des Alters steht, die Erkenntnis durch, daß Altern wohl wirklich ein bohrender Abschiedsschmerz ist, mit dem Arno Schmidt bewußt gekämpft hat, wohl wissend, daß jeder in diesem Kampf unterliegen muß.

Deshalb haben gewiß jene nicht Recht, die ihm vorwerfen, in „Julia“ mehr als in allen früheren Büchern das Ende der Menschheit, zumindest ihrer Kultur, akzeptiert zu haben.

Gewiß, da gibt es Sätze wie „Gott iss nischt heilig“, oder „Nichts kann man machen – gar nichts“. Aber dagegen steht ein ganz selbstverständliches Denken in die Zukunft in 1000 Jahren. Ihering-Schmidt: „Gewiß; nach dem Tode eines Schriftstellers entstehen zunächst immer erst einmal Leer-Stellen, blinde Flecke, die langsam nachrücken, manchmal auch nicht – wann wird man wohl erkennen, daß SCHILLING einer der größten deutschen Humoristen gewesen ist und gleichzeitig voll unschätzbarster Zeitbilder: in tausend Jahren wird man ihn brauchen wie LUKIAN!“

Oder wie endzeitlich ist der Satz auf Seite 88: „Es ist so gut wie alles noch zu leisten?“ So schreibt keiner, der wirklich das Ende für gekommen hält. Wer das behauptet, auf den trifft auch ein Zitat aus „Julia“ zu, er ist nämlich „altklug, ohne klug gewesen zu sein“.

Bei allem Abschiedskampf ist es also doch der alte Arno Schmidt, der Mann, der das Radioprogramm so gut kennt wie seinen geliebten Cooper und alle Fehler in der zuverlässigsten Logarithmen-Tafel. Der Mann, der nicht nur einen sitzengebliebenen Primaner zu einem Mathematikbesessenen macht, sondern auch seine Leser dazu treibt, nach über 30 Jahren die Raum- und Zahlenlehre der Oberprima (heute Sekundarstufe II) nebst Logarithmentafel wieder in die Hand zu nehmen und die arg zerfledderte Qual von damals mit neuen Augen zu betrachten.

Dann der Beimwortnehmer Schmidt. Wie hüpft der sprungbereite Geist bei der Schöpfung „Mekka-Liese“ oder dem „Millionarren“. Gar nichts Besonderes ist das, aber erst, wenn’s einer erfunden hat.

Jene Kritiker, für die das Einsortieren in Kästchen das Wichtigste ist und die Arno Schmidt gern ins linke Kästchen sortierten, kriegen auch gleich noch einen Satz vorgesetzt, der nicht ins Kästchen paßt: „Mit diesem Mangel an Nuancen wirkt ihr grauenhaft.“ Gemeint ist die Deutsche Demokratische Republik, aber anziehen kann sich’s, wer mag.

All das, Weltschau und Weisheit, Resignation und Rückschau, sind verpackt in eine vordergründig einfache Geschichte. Ein paar Leute, Weltkind Ihering in der Mitten, finden sich zufällig in einem kleinen Hotel in einem Ort, der „eine Art Bückeburg“ ist, im Sommer 1979, zur Ferienzeit. Zu den real existierenden Personen kommen die zum Leben erweckten Schloßbewohner, Julia vor allem, aber auch der belesene Kastellan, der eigentlich eine Durchlaucht ist, dann die Traumgestalt „1001“ mit ihrem Väterchen, dem Bootsführer auf dem Steinhuder Meer.

Verpackt aber auch in ein Schreibmaschinen-Skript, das in sich selbst Rätsel aufgibt. Wie macht der das? So fragt sich der Schreibmaschinen-Malträtierer, der Mühe genug hat, ein einigermaßen lesbares Maschinen-Skript vorzulegen. Langzeilen eng, Langzeilen mit Zwischenräumen. Kurzzeilen als Pakete rechts und links eingefügt, noch kurzzeiligere dazwischen. Die Ebenen des Denkens und Handelns, des Redens und Schilderns schieben sich übereinander, ineinander, jede Seite zeigt eine äußerst vielseitige Kameraführung, die alles gegenwärtig macht, ohne den Leser von eigener Mit-Arbeit zu befreien. Freilich: „Die Leute weigern sich einfach, aus irgend etwas eine Lehre zu ziehen.“

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post am Wochenende. Geist und Leben, 9. April 1983