Gerda Kaltwasser Textforum

„Epigonen“ im Schatten des Werther-Genies?

Professor Windfuhr über Immermann und Goethe

Liest heute noch jemand Immermann? Nicht nur die Düsseldorfer, die aber ganz besonders, haben Grund dazu. Karl Leberecht Immermann, geboren 1796, kritischer Freund Heinrich Heines, gehörte wie dieser zu den späten, zwiespältigen Zeitgenossen Goethes. Der war im Biedermeier allerdings nicht so unantastbar wie später. Rechte Kritiker schimpften ihn Freigeist, linke einen Konservativen. Nicht so Immermann; der preußische Landgerichtsrat und Dichter setzte sich mit Goethe als Schriftsteller auseinander, dessen übermächtiger Genieschatten jungen Dichtern das Licht stahl.

Immermann kam 1832 nach Düsseldorf, wurde eine der wichtigsten Persönlichkeiten im kulturellen Leben. Fünf Jahre arbeitete seine deutsche Musterbühne am Rhein, dann scheiterte sie an ein paar nicht bewilligten tausend Talern, während gleichzeitig die Düsseldorfer 400000 Taler für eine Eisenbahnlinie gezeichnet hatten, wie Professor Hugo Weidenhaupt in seiner „Kleinen Geschichte der Stadt Düsseldorf“ berichtet. Doch hat die Erinnerung an Immermanns Reformbühne Gustav Lindemann zur Gründung des Düsseldorfer Schauspielhauses zu Anfang des Jahrhunderts ermutigt, obwohl „die Städte am Rhein als unliterarisch bekannt“ waren. 1840 starb Immermann, auf dem Golzheimer Friedhof wird sein Grab gepflegt.

Der Erzähler Immermann war einst Thema der Dissertation des emeritierten Literaturwissenschaftlers Prof. Manfred Windfuhr. Im Heine-Institut sprach er über Immermanns Verhältnis zu Goethe, Titel: „Auf Tod und Leben“. Windfuhr näherte sich mit liebevoller Distanz dem Gegenstand seines Vortrags, jenem Immermann, für den der „Werther“ größer als der „Faust“ war; der Goethes „Wilhelm Meister“ seine „Epigonen“ gegenüberstellte; der sich drastisch über den Rheinischen Karneval und das Treiben an der Düsseldorfer Kunstakademie äußerte, aber in seiner öffentlichen Goethekritik immer sehr gemäßigt blieb, obwohl ihm erst in den letzten Jahren seines kurzen Lebens als Erzähler die Befreiung vom Vorbild Goethe gelang. Erreicht hat er es nicht.

Erreicht hat er aber, dass noch immer über ihn, dessen Satiren Opfer der Zensur unter Fürst Metternich waren, noch immer gestritten werden kann. Vehement kritisierte eine fortgeschrittene Studentin der Heinrich-Heine-Universität das ständige Messen ihres als Erzähler hochgeschätzten Studienobjekts Immermann an Goethe. Nicht vergleichen solle man ihn, sondern als eigenständige Kraft erkennen. Woher aber, so der Wissenschaftler Windfuhr, Maßstäbe gewinnen, wenn nicht durch Vergleich? Für uns Spätgeborene (noch immer Epigonen?) bleibt nur übrig: Immermann lesen.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 21. Januar 2000