Gerda Kaltwasser Textforum

„Das Unglück ist ein schlechter Lehrer“

„Das Muster“, Dieter Fortes erster Roman / Darstellung der europäischen Geschichte am Beispiel zweier Familien

„Im dritten Mond müssen die Maulbeerbäume geschnitten werden, und die Frauen müssen mit der Zucht der Seidenraupen beginnen. Wechsle nach jedem dritten und fünften Faden, wechsle die Zahl, wechsle wieder und gestalte das Muster unter dem Himmel, dies nennt man Brokat.“ So steht es im Musterbuch der Fontana, einer berühmten Seidenweberfamilie in der mittelalterlichen italienischen Stadt Lucca.

„Er sah seinen Großvater, wie er vom Stuhl aufstand, auf dem er den ganzen Tag gesessen hatte, diesem Stuhl aus geflochtenem Stroh, der nur dem alten Mann vorbehalten war, der darin saß und aus dem Fenster ins Bruch sah, das nicht Land, nicht Wasser war, ein dunkelschimmerndes Stück Erde, von einer schwachen Sonne erhellt.“ Das ist Polen. Doch die Kosaken hatten vorher hämisch einen unwissenden Viehjungen gefragt: „Polen? Noch nie gehört, wo liegt denn das?“

Zwei Handlungsstränge laufen in Dieter Fortes erstem Roman lange Zeit nebeneinander her und verknüpfen sich schließlich in der Gegenwart: die Geschichte zweier Familien, eine aus Italien, eine aus Polen. Beide werden im Lauf der Jahrhunderte von ein wenig Glück und viel Unglück betroffen. Das ist der Stoff, aus dem Familienromane gewoben sind. Aber Dieter Fortes Buch ist nicht von dieser betulichen Sorte. Es ist eine Darstellung der europäischen Geschichte am Beispiel zweier Familien, ein überwältigendes Gemälde, geschrieben in beispielhaft unverspieltem Deutsch und einer bei uns nur selten anzutreffenden ironischen Distanz. Die geht übrigens nicht auf die Kosten unserer Bereitschaft, mit diesen Menschen zu leben und zu leiden. Nie werden sie zu Figuren, auch wenn sie uns noch so fern zu sein scheinen.

Dieter Forte, Jahrgang 1935, in Düsseldorf geboren und wie so mancher schreibende Düsseldorfer mit dieser Stadt durch eine unglückliche Liebe verbunden, siedelt den Schluß seines Romans in Düsseldorf an. Er, der aus Oberbilk stammt, der die Kölner Straße die „Kö der Arbeiter“ nennt, hat mit diesem Werk ein literarisches Denkmal für seine Heimatstadt geschaffen wie Thomas Mann für Lübeck, Günter Grass für Danzig. Es ist zu erwarten, daß die Düsseldorfer das nicht merken.

Macht nichts, Hauptsache, sie lesen das Buch. Es ist ja auch nur in zweiter Linie ein Stück Lokalgeschichte. Für sie hat Dieter Forte lange genug intensive Studien getrieben, die schließlich im vergangenen Herbst in der Welturaufführung seines Stückes „Das endlose Leben“ im Düsseldorfer Stadtmuseum gipfelten. Manches Detail dieser Studien nutzte Dieter Forte auch in seinem Roman. Beide Werke, der Roman und der Bilderbogen fürs Theater, bestehen eigenständig und unabhängig nebeneinander.

Situationsbeschreibung Düsseldorfs nach dem Ersten Weltkrieg: „Auch innerhalb Düsseldorfs gab es In- und Ausland, denn die alten und die neuen Zonen entwickelten ihr Eigenleben. Die Engländer führten in ihrer Zone die englische Zeit ein, so daß man, wenn man nach Benrath kam, die Uhr eine Stunde zurückstellen mußte.“ Die Franzosen versuchten „vor allem die klare, vernünftige französische Verwaltung einzuführen, der kommandierende General traf sich deshalb mit dem hilflosen Bürgermeister gelegentlich in der Kunstakademie, das war ein stilvoller, würdiger und gewissermaßen neutraler Ort, der einzige Ort, an dem in Düsseldorf absolute Ruhe herrschte ...“

Lokalbezug, das ist das Besondere. Aber nie bleibt es dabei, immer führt der Weg vom Besonderen ins Allgemeine, vom örtlichen zum europäischen Bezug. Was da geschildert wird, betrifft uns alle, auch wenn es in unserer Familie weder ein Musterbuch für Brokate noch einen Kumpel Anton gibt. Gespannt und gerührt lesen wir Kapitel um Kapitel. Und reiben uns die Hände, wenn dem Sprachkünstler und Menschenkenner Forte wieder ein scheinbar harmloser Hieb mit dem Florett gelungen ist. Touché. Berührt.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Das Neue Buch, 26. September 1992