Gerda Kaltwasser Textforum

Gesalbte Wunden

Gerd Ellenbeck über Goethes späte Lieben

Man hat ihn einen eingebildeten Kranken genannt, hat ihm Gemütskälte, Egoismus, Hochmut zugeschrieben, jene negativen Kennzeichen, die die Olympier, Götter in der griechischen Antike, auch ausmachen. Gerd Ellenbeck aus Wuppertal, Graphiker von Beruf und Goethe-Essayist aus Neigung, zeichnete vor den internationalen Gästen der Abschluß-Matinee des Kongresses „Goethes geistiges Europa“ in Schloß Jägerhof ein anderes Bild: „Späte Liebe 1823“, musikalisch ausgemalt mit Werken, die untrennbar mit diesen späten Lieben verbunden sind. Die aus Indien stammende Pianistin Sheila Arnold stellte die Komponistin und Klaviervirtuosin Marie Szymanowska aus Polen vor. Hausherr Volkmar Hansen begrüßte mit vielsagendem Lächeln. Das versprach nicht zuviel; es wurde ein Goethe-Morgen zum Lächeln, wenn auch manchmal unter Tränen.

Schokolade und Promenade

Johann Wolfgang von Goethe, Geheimer Rat, weltberühmt, über 70 Jahre als, nach lebensbedrohenden Blutstürzen zur Kur in Marienbad, voll entflammt für die 19jährige Ulrike von Levetzow, Tochter eines Freundes. Sie hat keine Zeile von ihm gelesen, freut sich aber über sein Geschenk, eine Tafel Schokolade; stolz schreitet sie neben ihm über die Promenade des Kurortes. Seine und ihre Bekannten belächeln und zerreden die merkwürdige Verbindung, auch ohne Paparazzi und Yellow Press wird der Skandal gründlich publik gemacht. Und dann das noch: Der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach hält für Goethe um Ulrikens Hand bei deren Mutter Amalia an. Zwei Tage später reisen die Damen ab, weg aus Goethes Augen. Der alte Mann ist tief getroffen, tiefer, als verletzte Eitelkeit zu treffen vermag. Hier nun kommt die Pianistin aus Polen ins Spiel, gibt durch ihre Musik zu erkennen, daß sie mit ihm fühlt. Musik salbt die Wunden des Herzens, Schönheit trocknet die Tränen in Goethes Augen. Schneller Trost? Gerd Ellenbeck hat in kluger Dramaturgie zusammen- und ohne raumgreifende Gesten dargestellt, was Goethe, was Zeitgenossen, auch Schwiegertochter Ottilie, in jenen aufwühlenden Tagen, Wochen, Monaten gesagt und geschrieben haben. Nein, das war keine Augenblicksaffäre, auch keine Alterstorheit. Bis heute weiß keiner, ob der Großherzog von Goethe einen Auftrag hatte. Und Ulrike? Sie starb, 95 Jahre alt, unverheiratet. Wir kennen kein Wort von ihr über Goethe, aber bis an ihr Lebensende ist sie beschäftigt mit Goethes Briefen. Der schrieb sich gesund mit den Marienbader Elegien, mit dem 2. Teil des Faustus. Dabei half ihm die Verehrung für Marie Szymanowska, die er mit vielen Zeitgenossen, auch mit Schumann, teilte.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post, 28. Juni 1999