Gerda Kaltwasser Textforum

„Im Krebsgang“ zurück zu den Opfern des Kriegs?

Grass, Heinz Schön und die „Wilhelm Gustloff“: Im vollbesetzten Konferenzraum des Gerhart-Hauptmann-Hauses gab es einen Abend der Information über ein Thema, das Emotionen erregt.

Diktator von Davos wurde er genannt. Von dem Juden David Frankfurter wurde er ermordet. Später bekam eins der größten Schiffe des Deutschen Reiches seinen Namen: Wilhelm Gustloff. Es wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt, an Bord fast 9000 Flüchtlinge. Nur etwa einhundert überlebten, darunter der 19-jährige Zahlmeister-Assistent Heinz Schön.

Nicht zum ersten Mal, aber nie mit solchem Echo ist das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“, ist der oft als Kriegsverbrechen bezeichnete Tod tausender Zivilisten in der Literatur be- und verarbeitet worden wie jetzt in der Novelle „Im Krebsgang“ von Nobelpreisträger Günter Grass. Hat Grass, anders als seine Vorgänger, den richtigen Augenblick für das Thema erwischt? Hat er gar unerlaubt abgeschrieben bei dem heute 75-jährigen Heinz Schön, der alle erreichbaren Fakten zum Fall „Gustloff“ in seinen Büchern zusammentrug?

Im vollbesetzten Konferenzraum des Gerhart-Hauptmann-Hauses begrüßte Hausherr Walter Engel Heinz Schön und den Feuilletonredakteur der Rheinischen Post, Lothar Schröder, der während der Leipziger Buchmesse mit Grass gesprochen und darüber berichtet hat. Schön ließ sich von Schröder bereitwillig interviewen.

Begegnung mit Grass

Zuvor berichtete Schröder über seine Begegnung mit Grass und den inzwischen aufgekommenen Streit unter Literaturfreunden und Vertretern der „political correctness“, die sagen, es sei Mode geworden, aus Tätern Opfer (der selbstverschuldeten Bombenangriffe und der Vertreibung) zu stilisieren. Sie führten dabei als Beispiel außer Grass auch den Düsseldorfer Schriftsteller Dieter Forte und das zweite Buch seiner Romantrilogie, „Der Junge mit den blutigen Schuhen“, an.

Wer erwartet oder gar erhofft hatte, Heinz Schön, kaum älter als Grass, werde dem weltbekannten Schriftsteller geistigen oder faktischen Diebstahl bescheinigen, sah sich ebenso getäuscht wie die Befürworter des „Kriegsverbrechen“-Vorwurfs. Mit sozusagen mathematischer Genauigkeit schilderte er den kriegsmäßigen Einsatz der „Gustloff“ beim Flüchtlingstransport über die Ostsee. Später in der Diskussion nannte er es zwar wahrscheinlich, dass die „Gustloff“ wohl auch als gekennzeichnetes Lazarettschiff torpediert worden wäre; er schilderte aber auch die Möglichkeit, dass das Schiff - ufernah und also untorpedierbar - ohne die hohen Verluste an Menschenleben hätte eingesetzt werden können.

Und der Täter, der sowjetische Torpedoschütze? Er hat der Propagandalüge geglaubt, es auf dem Schiff mit hochrangigen nationalsozialistischen Führern und Funktionären zu tun zu haben. Als er von Schön die Wahrheit über den Tod tausender Frauen und Kinder erfuhr, habe er, so erzählte die Frau des Schützen, nachts nicht mehr schlafen können.

Es war ein Abend der Information im Schatten der viel populäreren, wenngleich an Opfern ärmeren „Titanic“-Katastrophe – über ein Thema, das Emotionen erregt, vor allem bei Zeitzeugen, deren es immer weniger gibt. Aber Zeitzeugen, so sagte im Vorjahr ein Geschichtswissenschaftler bei anderer Gelegenheit in Düsseldorf, sind eh der Schrecken der Historiker.

Zu teilen ist die Sorge, der Alla Pfeffer, Vorsitzende des Schriftsteller-Ortsverbandes, Stimme gab: Warum so wenig junge Leute bei dieser Veranstaltung? – Vielleicht waren ja ein paar Lehrer da.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 17. April 2002