Gerda Kaltwasser Textforum

Mann ohne Gesicht. Der Fall Forestier – alias Karl Emerich Krämer

Wie ein nicht vorhandener Dichter aus Düsseldorf die Nachkriegs-Westdeutschen zu Lyrik-Lesern machte.

Damals, Mitte der fünfziger Jahre, war das ein richtiger Literaturskandal, von ganz anderer Art übrigens als Jahrzehnte später die Sache mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern im „Stern“. Die Erinnerung an den Krieg, an das Kriegsende, war noch frisch, und noch waren nicht alle Kriegsgefangenen entlassen; die Suchmeldungen des Roten Kreuzes waren die meistgehörten Rundfunksendungen.

Da begannen die Bürger in der jungen Bundesrepublik Deutschland das zu tun, was nicht zu ihrer täglichen Kost gehörte: Sie lasen Gedichte. 1952 erschien ein Band mit dem Titel „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße.“ Autor war ein gewisser George Forestier. Tot sollte der sein, als Fremdenlegionär in Indochina verschollen. Ein anderer, glücklicherer hatte ein Bündel beschriebenes Papier bei dem Toten gefunden, eingesteckt, die Gedichte entdeckt, sie drucken lassen.

Lyrik aus Endzeiterfahrung

Das war Lyrik aus einer Endzeiterfahrung, die wir alle gemacht hatten. Endlich wurde gedichtet, was Wolfgang Borchert als Theaterstück „Draußen vor der Tür“ genannt hatte. Das war weder Reim-dich-oder-ich-fress-dich noch freie Wortakrobatik, mit der junge Lyriker gegen die ehemaligen Bücherverbrenner aufmuckten.

Die jungen Aufmucker fühlten sich so stark, dass sie einen Paul Celan mit Achselzucken abtaten. Aber sie merkten nichts, als ein literarisch bewanderter Setzer so ein Gedicht in der Rheinischen Post um eine Strophe bereicherte. Nun jedoch dieser Forestier, nicht biedermeierlich, aber verständlich.

Das Phänomen Forestier wurde untersucht, auch im „Spiegel“, auch in der „Zeit“, in Frage gestellt wurde es nicht, jedenfalls zunächst nicht. Aber ganz langsam wuchs Misstrauen heran an diesem Forestier, von dem nirgendwo Spuren vor seinem Soldatentod zu entdecken waren.

Als journalistische Spürhunde (auch der Rheinischen Post) schließlich den Dichter Forestier als den „Alias“ des Düsseldorfer Schriftstellers und Werbemannes Dr. Karl Emerich Krämer entlarvten, dem die Adenauer-CDU den Wahlslogan-Dauerbrenner „Keine Experimente“ verdankte, war die Häme groß.

Genasführte Literaturkritik

Forestier war also eine Erfindung des Dr. Krämer, Jahrgang 1918, Soldat im Zweiten Weltkrieg, dekoriert, verwundet, in Gefangenschaft geraten. Es stimmte also mit der Endzeiterfahrung, nur der tote Forestier stimmte nicht. Die genasführte Literaturkritik nahm übel, strafte Karl Emerich Krämer fortan mit Nichtachtung.

Seine Leser störte das wenig, sie liebten seine Gedichte noch, als jüngere Literaturfreunde schon verwundert fragten, das war 1986, was man an diesem Herrn Forestier überhaupt habe gut finden können. Karl Emerich Krämer starb 1987.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Beilage zum Bücherbummel, 14. Juni 2001, S. 12