Anna Klapheck Textforum

Seine Werke sind er selbst

Erinnerungen an Beuys

„Ach, Sie sind aus Düsseldorf und haben mit Kunst zu tun – lebt dort nicht dieser Beuys?“ Manches Mal bin ich so ähnlich gefragt worden und antwortete stets seelenruhig: „Ja, ein liebenswerter Mensch, ich kenne ihn gut, wir sind befreundet.“ Was beim Frager prompt einen gewissen Unwillen hervorrief. Er hätte lieber schreckliche Dinge über „diesen Beuys“ gehört.

Beuys war, so seltsam es auch klingen mag bei einem Beweger und Unruhestifter, ein stiller Mensch. Ich sehe ihn bei einer Fluxusveranstaltung in der Düsseldorfer Kunstakademie, den toten Hasen auf der Schulter, langsam die wenigen Stufen zum Podest hinaufsteigen, ernst, konzentriert; für das Spektakel sorgten die anderen. Er konnte ganz unauffällig in der Runde sitzen, ein Zuhörer und Frager, Anteilnahme ausströmend. Familie war ihm wichtig, und er liebte es, wenn sie alle, Frau und zwei Kinder, am Eckplatz zusammensaßen und er das selbst gekochte Essen auf den Tisch brachte.

Als wir vor knapp fünf Jahren, am 12. Mai 1981, mit einem großen Straßenfest, von morgens bis abends, seinen 60. Geburtstag feierten, da strömte es von allen Seiten hinein in den offenen Hof. Doch eigentlich ging es fast bürgerlich zu, mit gedeckten Tischen, vorzüglichem Braten und mit Kuchen, Wein, Bier und Kaffee. Beuys hielt sich im Hintergrund, ging aber von einem zum anderen als sorgsamer Wirt. Auch aus Kleve, wo er aufgewachsen ist, war die Familie gekommen und die Schwiegermutter aus Bonner Professorenhaus.

Als er an unsern Tisch kam, lachte er sein echtes Beuys-Lachen, mit großen, blitzenden Zähnen. „Viele kenne ich gar nicht“, sagte er, „die kommen einfach so herein. Recht so, das Bier reicht, alle können kommen.“ Ich hatte in der Rheinischen Post einen kleinen Geburtstagsgruß geschrieben, da war am Abend eine fremde Stimme am Telefon, mit rheinischem Sprachklang und ein bißchen ungelenk: „Gefiel mir, wie Sie über den Beuys geschrieben haben. Der ist nämlich ganz anders, als die Leute denken. Den kenne ich seit Jahren und habe für ihn gearbeitet. Das ist ein guter Mensch, dem kann man alles sagen, der ist immer für einen da. Sollen doch nicht ewig nur von dem Hut reden, er trägt ihn nun mal.“

Als Mataré-Schüler wußte sich Beuys in jungen Jahren dem Lehrer völlig anzupassen. Er war kein Revoluzzer, kein aufsässiger Student. Geduldig half er dem Älteren beim Einsetzen der Mosaiksteine in die Reliefs der Kölner Domtüren. „Mein Schüler Beuys bemüht sich auf das beste . . . er wird einmal ein sehr guter Bildhauer werden. Er hat ein ausgesprochen rhythmisches Gefühl und bewundernswerte Ausdauer“, schreibt Mataré am 2. Dezember 1950 in sein Tagebuch (veröffentlicht 1973). Zeitweilig hatte Beuys sein Atelier draußen in Büderich neben dem von Mataré, er gehörte ganz zur Familie, half, tätig wie er ist, bei der Gartenarbeit, besorgte Samen und Stecklinge und war um Frau Mataré liebevoll bemüht. In freien Stunden spielte man Boccia. Er hielt Mataré die Treue, auch als dieser den Wegen des Schülers nicht immer folgen konnte.

Seine Anfänge weisen nach Kleve, die Stadt seiner Kindheit und nach Düsseldorf, wo er bis zuletzt gewohnt hat. Hier war es Alfred Schmela, der sein Talent früh erkannte und den Grund zu seinen Erfolgen legte. Aber auch dies geschah langsam, zögernd. Beuys war kein stürmischer Eroberer. In der von Paul Wember 1958 im Krefelder Haus Lange veranstalteten Ausstellung „Niederrheinische Künstler“ ist uns der Name Beuys – er war immerhin schon 37 – zum erstenmal deutlicher bewußt geworden. Schmela war in der Auswahlkommission und hatte es mit Mühe erreicht, drei Objekte von Beuys in die Ausstellung hineinzukriegen. Der „Kunstpreis der Stadt Krefeld“ wurde gleichzeitig vergeben, ich gehörte der Jury an. Auf der Terrasse stand eines der Objekte von Beuys, ein, wenn ich mich recht erinnere, gewundenes Eisenband mit Rollen, drohend, beunruhigend. Nach hartem Kampf kam es zur Abstimmung, Heinz Mack erhielt den Preis. Wember und ich gestanden uns, wir hätten für Beuys gestimmt.

„Der interessiert mich“, hatte Schmela mit sicherem Instinkt sogleich erkannt, aber es dauerte noch lange, bis er Beuys für seine Galerie gewinnen konnte. Ehepaar Schmela, so erzählt es Monika Schmela, machten sich mit Tochter Ulrike auf den Weg nach Kleve, wo Beuys damals sein Atelier hatte. Er empfing sie mit einem herzhaften selbstgekochten Gericht. Dann pilgerte man über die lange Pappelallee hinaus ins Alte Kurhaus, wo Beuys arbeitete. Zeichnungen, Aquarelle, Objekte kamen zum Vorschein, eine verwesende Ratte im Karton, alles geheimnisvoll und neuartig. Schmela gelang es nicht, Beuys ein paar Arbeiten zu entreißen. Einige Tage später brachte Beuys dann doch etliche Blätter in die Galerie. Sie waren schwer verkäuflich, in jedem Fall billig.

Erst Jahre später kam es zur ersten Galerieausstellung, viele weitere sind ihr gefolgt und haben den Ruhm von Beuys begleitet, ja, immer aufs neue gefestigt. Langsam begriff man, daß diese toten Dinge Relikte des Lebens sind, daß ihre dunklen Titel auf das Rätsel unserer Existenz hinweisen. Beuys selbst gibt keine Erklärungen: „Das sieht man doch“. Als ich einmal mit ihm sprach und mich selbst um Deutung bemühte, etwa ob der verpackte Flügel (lange vor Christo) vielleicht das Verstummen von Klang und Musik andeute, lachte er: „Ja, so kann man es auch ansehen.“

Beuys war, wie gesagt, eher ein stiller Mensch, der nur selten in Wut geriet. Und doch dieses Spektakel, diese Anfeindungen, diese nicht endenden Gespräche über ihn? Wie geht das zusammen? Beuys hatte in seltener Weise Präsenz. Wo er hinzutrat, wurde er bemerkt, und alles, was er geschaffen hat, steht in unmittelbarer Beziehung zu seiner Person, ist ein Stück von ihm selbst, erhält erst von ihm Strahlkraft und Leben. Bei seiner Ausstellung im Guggenheim Museum New York, so hat man mir erzählt, sei das verwöhnte amerikanische Publikum am Eröffnungsabend hingerissen gewesen: Beuys selbst stand inmitten seiner Werke. Am nächsten Morgen, als er abgereist war, seien viele Besucher enttäuscht gewesen, der Funke sprang nicht über.

Beuys ist tot, die Kunstwelt ist ärmer geworden. Das Werk, das er geschaffen hat, ist wie ein Schauspiel, über dem der Vorhang nun heruntergegangen ist, ein fast sakraler Vorgang, denn Beuys war ein religiöser Mensch. Sein Zeichen war das Kreuz. Er war früh mit dem Tode vertraut, worauf mehrere seiner Bildtitel hinweisen. („Endzeit des 20. Jahrhunderts“ – letzte Ausstellung bei Schmela). Seine Zeichnungen und Aquarelle sind ein unverlierbarer Besitz. Ob manche seiner Objekte nur Niederschlag schöpferischer Augenblicke sind, ob sie, eng an ihren Schöpfer gebunden, ein überdauerndes Eigenleben gewinnen, wird sich erweisen.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 1. Februar 1986