Anna Klapheck Textforum

Der Götterhimmel im Jugendbuch

Professor Brüggemann sprach im Goethe-Museum

Im Zusammenhang mit der Ausstellung des Goethe-Museums „Das Kinderbuch in der Goethe-Zeit“ sprach Professor Dr. Theodor Brüggemann (Köln) an gleicher Stelle zum gleichen Thema. Brüggemann ist einer der besten Kenner der Kinder- und Jugendliteratur und besitzt selbst eine reichhaltige Sammlung historischer Kinderbücher, deren Katalog, erschienen 1975, eine fast vollständige Bibliographie dieses heute sehr aktuellen Gebietes ergab. Brüggemann lehrt seit 1962 an der Pädagogischen Hochschule Köln und gehört zur Jury für den alljährlich vergebenen „Deutschen Jugendbuchpreis“.

Bei seiner umfassenden Kenntnis jugendlichen Schrifttums mußte er sein Thema naturgemäß eingrenzen, und so sprach er über „Antike Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur der Goethe-Zeit“, wobei, allein vom Stoff her, das „Jugendbuch“, wie man heute sagt, vor dem eigentlichen Kinderbuch den Vorrang hatte; denn der antike Götterhimmel erschließt sich dem jugendlichen Gemüt doch erst von einem bestimmten Alter an.

Natürlich erfuhr das Jugendbuch die gleichen geistigen Anstöße wie die hohe Literatur, und die heute gelegentlich diskutierte Frage, ob es eigenen Gesetzen unterliege oder gar verspätet der Entwicklung folge, wurde von Brüggemann überzeugend dahin beantwortet, daß es, wie alle Äußerungen der Epoche, den Zeitgeist in reinster Form spiegle. Der Redner behandelte den Zeitraum von 1740 bis 1840, historisch also die Zeit von der Aufklärung über die Klassik bis zum beginnenden Biedermeier.

Erst mit der Klassik drang die griechische Götterwelt über das Buch in das jugendliche Bewusstsein ein, sie gehörte zur Bildung. Der Jugendliche, auch Goethe, holte sich Belehrung beim Vater und las die Bücher der „Erwachsenen“. Freilich gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein auch Gegner der klassischen Bildung, die in den alten Mythologien Zauber und Aberglauben sahen und mit moralischen Bedenken nicht zurückhielten.

Anhand von Lichtbildern ließ der Vertragende eine kleine Jugendbibliothek mit Titeln und Illustrationen am Auge vorüberziehen. Am Anfang Fénelons „Aventures de Télémaque“ von 1699 (Telemach war der Sohn des Odysseus), ein Erziehungsroman, geschrieben für den französischen Dauphin, in dem theologisches und antikes Gedankengut seltsam vermischt sind. Die Illustrationen sind von üppigem barockem Pathos.

Eine „Einleitung in die Götterlehre“ von 1776 ist dann schon für den speziellen Gebrauch in der Schule bestimmt. Die neue pädagogische Bewegung wird geprägt durch Basedow, dessen vierbändiges „Elementarwerk“ mit Illustrationen von Chodowiecki auch die griechische Sagenwelt einbezieht und weitreichend erzieherisch gewirkt hat. In der zweiten „klassischen Phase“ führen viele Fäden nach Weimar. Bertuch und Moritz, Verfasser von Jugendschriften, stehen beide mit Goethe in Verbindung. Es erscheinen Bücher wie „Götterlehre für junge Leute“ oder ein „Mythologisches Handbuch zum Gebrauch für Schulen“. Die Illustrationen lehnen sich nun direkt an antike Vorbilder an, die Mediceische Venus und der Apoll von Belvedere sind das unerschöpfliche Beispiel. Die Bilder zeigen die Figuren oft in bloßem Umriß oder in der Art von Gemmen.

Alles wird wieder blasser, unkörperlicher in der dritten, nun schon das Biedermeier einleitenden Phase. Erotisches wird moralisch umgedeutet, die Grazien werden zu Symbolen christlicher Tugenden, Venus erscheint in strenger Umhüllung. In einem „Mythologischen Blütenzweig“ von 1837 setzt ein treuherziger Erzählstil ein, der genrehafte Züge enthält.

Manch Nachdenkliches, aber auch viel Belustigendes gab es in Brüggemanns reicher Bilderfolge zu sehen. Lebhafter Beifall dankte für die gelehrte Unterweisung. Unwillkürlich spann man den Faden weiter zu den Comics der Gegenwart und ihren psychologischen und zeitgenössischen Hintergründen. Aber diesen nachzugehen, bedürfte es wohl eines eigenen Vortrags.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 12. Januar 1982