Anna Klapheck Textforum

Der Anti-Faust

Salvador Dalis Autobiographie

Als der Name „Dali“ Deutschland erreichte – mit Bewußtsein erst nach dem Kriege -, da stieß er beim breiten Publikum auf eine nahezu totale Ablehnung. Picasso, das mochte noch hingehen, aber Dali, sein spanischer Landsmann, dieser Maler mit dem nach oben gezwirbelten Schnurrbart (seine spitzen Enden nennt Dali seine Antennen) wurde zum Inbegriff dessen, was ein Künstler nicht sein darf: ein vom Größenwahn besessener Exhibitionist, ein Skandalmacher, ein Verrückter, ein Scharlatan. Zudem hatte man sich mit der nichtfigurativen Kunst soeben abgefunden, dieser aber malte in einem peinlichen Verismus. Und wo man endlich zu wissen glaubte, was „modern“ ist, erklärte sich Dali als fanatischer Verfechter der Tradition.

Inzwischen hat sich vieles gewandelt. Wir sind ganz andere Skandale gewöhnt, die Grenze des Erlaubten ist im Schwinden, die abstrakte Kunst ins Hintertreffen geraten. Aktionskunst und „Private Mythologien“ (beide Begriffe sind auf Dali anwendbar) bilden Ausstellungsprogramme, dem Künstler ist auch äußerlich ein „Image“ zugebilligt, und so gönnt man Dali seinen Schnurrbart wie Beuys seinen Hut.

Und nun ist zum 80. Geburtstag Dalis – noch bevor ihn das bedrohliche Brandunglück traf – ein Buch erschienen, das den Mythos Dali wie nie zuvor entschlüsselt: „Das geheime Leben des Salvador Dali. Eine Selbstbiographie“ (Verlag Schirmer/Mosel. Aus dem Amerikanischen von Ralf Schiebler. 500 Seiten, 134 Zeichnungen, 85 Photographien, 49,80 DM). Genau gesagt: Es handelt sich um kein neues Werk, vielmehr um die lange hinausgezögerte deutsche Übersetzung eines 1941 geschriebenen Buches, dessen Autor damals 37 Jahre alt war. Im amerikanischen Exil legte Dali seinen Lebensbericht ab, in krausem Sprachgemisch und abenteuerlicher Orthographie, dessen Original verloren ist, von dem jedoch 1942, in der Bearbeitung von Haakon M. Chevalier, eine englische Fassung erschien. Erst 1954 folgte die französische und erst 1981 die spanische Übersetzung. Als verschollen galten auch die von 1920 – 1942 entstandenen, genial improvisierten Zeichnungen, die Dali seinem Buch beigegeben hatte. Sie kamen im amerikanischen Verlag erst vor wenigen Jahren zum Vorschein und sind der deutschen Ausgabe erstmals im Originalformat beigegeben.

Die Selbstbiographie eines heute Achtzigjährigen, geschrieben und als endgültig angesehen in der Mitte des Lebens, das ist erstaunlich. Dali war kein Fanatiker des Jungseins, kein Faust, der sich die Jugend ertrotzt. Er nennt sich vielmehr einen Anti-Faust, der mit seiner „Vivisektion“ den ersten aufsteigenden Teil seines Lebens festhalten will, um dann, frei von der Last der Vergangenheit, gleichsam spiegelverkehrt, dem „geliebten Alter“ entgegenzuleben.

Man hat diese Memoiren mit denen von Benvenuto Cellini verglichen, man hat im Hinblick auf die „Übersichtigkeit“ der Wahrnehmung auf Proust hingewiesen, und es steht ganz außer Frage, daß der von Künstlern stammenden Memoirenliteratur ein bleibendes Werk hinzugefügt ist. Was unser Jahrhundert an psychologischen Erfahrungen und der Erforschung des Unbewußten hinzugewonnen hat, das ist in das Buch eingegangen. Vieles gleicht einem imaginären Gespräch mit Freud, dessen „Traumdeutung“ Dali eine der „Hauptentdeckungen“ seines Lebens nennt. Er hat Freud in London besucht und einige erschütternde Bildnis-Skizzen des bereits vom Tode Gezeichneten angefertigt.

Es fehlt in diesen Memoiren nicht an großen Namen, sowohl aus der Vergangenheit (Raffael als der unerreichbare Gott, bald nach ihm Vermeer) als auch aus der eigenen Umgebung; zweimal in der Woche sei er mit Picasso zusammengewesen. Dennoch erscheinen alle Figuren, ferne und nahe, nur am Rande. Letztlich handelt sein Buch nur von einer einzigen Gestalt, und diese ist Dali selbst. „Vor allem und um jeden Preis: ich – nur ich!“

„Seit 1929 habe ich ein sehr klares Bewußtsein meines Genies“, heißt es gleich am Anfang. Dem Kind hatte man einen Krönungsmantel geschenkt und eine Goldkrone aufs Haupt gesetzt. Das Gefühl, anders zu sein als alle anderen, verläßt ihn nie. Er wollte beunruhigen, provozieren, einen Mythos, eine Legende um sich bilden. Am Ende von allem aber stand der Ruhm, aufgebaut, wie er sagt, auf einer Art systematischer „Dalischer Dramaturgie“. Ob ein Hauch von Ironie bei diesem maßlosen Ichbewußtsein mitspielt, ist schwer zu entscheiden. Als Kind, so erzählt er, habe er, in einer Waschwanne sitzend, die Rolle eines „Genies“ zu spielen begonnen. „Oh Dali! Wenn Du Genie spielst, wirst Du eins!“

Das Buch bewegt sich in zwei Ebenen, die einander überlagern. Da ist als festes Gerüst ein durchlaufender Lebensbericht, der, ganz im Sinne Freuds, mit den Erinnerungen an die „pränatale“ Existenz, das Trauma der Geburt und die Paradiese des Säuglings beginnt; es folgt die Schilderung einer verwöhnten Kindheit (der Vater war Notar im katalonischen Figueras). Dali ist ein brillanter Schüler, wird dennoch wegen seiner Extravaganzen von der Schule entlassen, studiert an der Kunstakademie Madrid, wo er die Aufnahmeprüfung mit einer zwar regelwidrigen, dennoch vom Prüfungskomitee als „vollkommen“ erachteten Zeichnung besteht, wird dennoch auch von dieser Schule verwiesen. Er geht nach Paris, lernt die Großen der Zeit kennen, wird in den Kreis der um André Breton gescharten Surrealisten aufgenommen, die ihn später aber wieder verstoßen. Nahe Verbindung ergibt sich zu Buñuel, mit dem er die berühmten surrealistischen Filme („Der andalusische Hund“) herstellt.

Die Erzählung kommt zu ihrem Höhepunkt, wenn Gala in sein Leben tritt, seine „erste und einzige Liebe“ (sie starb 1982). Sie war, als er sie kennenlernte, die Frau des Dichters Eluard. Zusammen mit Magritte und Buñuel besuchen sie ihn in Cadaquês, wo er die Ferien verbrachte. „Sie war da, und das sollte genügen!“. Sie heilt ihn vom drohenden Wahn, wird die Erlöserin, die Retterin. Die Geschichte ihrer Liebe, so wie Dali sie erzählt, wird zur unvergänglichen Poesie.

In dem kleinen Hafen Port Lligat unweit Cadaquês bauen sie sich ihr Haus – in jener Landschaft, die für Dali die einzige ist, die existiert. Sie meiden alle Künstlerfreunde, ihr Umgang sind die Fischer des Dorfes, bedient werden sie von der verrückten alten Lydia, die „wahrhaft homerische Gerichte“ bereiten kann. Es riecht beim Lesen förmlich nach Fischsuppe, man spürt das Meer. Das Geld ist knapp, sie führen ein Dasein der Askese, dennoch „ein Leben unter dem Licht der Ewigkeit“.

Langsam finden sie ins andere Leben zurück. Sie fahren nach Paris und zu den surrealistischen Freunden, sie werden heimisch in den Kreisen der Aristokratie; Ruhm und Geld stellen sich ein. Als der Krieg ausbricht, begeben sie sich, wie viele andere Künstler, nach Amerika und finden Aufnahme in einem Landhaus in Virginia. In fünf Monaten, 1941, entsteht in strenger Arbeitsklausur sein Buch.

Der Lebensbericht ist durchsetzt von dem, was als das eigentlich „Dalineske“ gilt: Wachträume und Halluzinationen, Absurditäten und Übersteigerungen des eigenen Ich. Das reicht vom zerlaufenen Camembert, der zum Anstoß wurde für das berühmte Bild der „Weichen Uhren“, bis hin zu den Heuschrecken, Fliegen, Ameisen, Würmern, die das Buch bevölkern. Doch immer dort, wo der Ekel aufsteigen will, kippt die Darstellung auf geheimnisvolle Weise um: „Die Häßlichkeit betrügt Euch doch immer wieder mit der Schönheit.“ Eingeflochten sind zudem unzählige Reflexionen über Kunst, Philosophie, Religion, die eine überragende Bildung verraten.

Er, Dali, so heißt es gegen Ende des Buches, sei immer der naive katalonische Bauer gewesen, in dessen Körper ein König wohnt. Sich mit Dali beschäftigen, gleicht einem Vexierspiel, es hält einen in Atem. Werner Spies nannte Dalis Autobiographie in seiner Besprechung ein „ungeheures Buch“.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 13. Oktober 1984