Anna Klapheck Textforum

Vom Nutzen des Nutzlosen

Für und wider den Dilettanten

„Si diletta“ – er vergnügt sich – sagte man im 18. Jahrhundert in Italien von einem, der seine Kunst ausübte, ohne nach Zweck und Nutzen zu fragen. Er trat in Gegensatz zum „Maestro“, zum Meister, der die Regeln kennt und sich nach ihnen richtet.

Der sich so an der Kunst ergötzte, war immer ein großer Herr; ja, seit den Tagen der Renaissance war kaum ein großer Herr zu denken, der nicht mit der Kunst Umgang hatte. Musik, Schauspielkunst, Tanz zu üben, war ihm nahezu selbstverständlich, er pflegte die Sprachen, die Literatur und wußte sich mit Anmut auszudrücken. Er sammelte Kunstwerke, schulte an ihnen sein Auge und griff selbst zu Stift und Pinsel. Er gestaltete Haus und Garten nach seinen Ideen und war in den Wissenschaften bewandert. Die allseitig gebildete, harmonische Persönlichkeit war das Lebensziel.

Das Wort „Dilettant“ ist späteren Datums und erhielt seinen geringschätzigen Nebensinn erst dann, als die Kultur ganz wesentlich vom arbeitsfreudigen Bürgertum getragen wurde. Ein Tun, dem Spielcharakter innewohnt, galt nicht für voll. Wissen und Können gewannen den Vorrang. Schließlich rückte bei jeder Tätigkeit der Gedanke an den Erwerb in den Vordergrund.

Dennoch erfuhr der „Dilettantismus“, von dem man nun sprach, zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Ausbreitung wie nie zuvor. Etwas von der alten Gesellschaftskultur, nach der man sich heimlich sehnte, fand in ihm seine Fortsetzung, nur daß jenes zweckfreie Tun jetzt bewußt dem Nützlichen gegenübertrat. Der Dilettant gab sich privat und ein wenig heimlich, er wurde beargwöhnt, und man begann, über seinen Nutzen und Schaden nachzudenken.

Nirgends finden sich so harte Worte über den Dilettantismus wie bei Schiller und Goethe, die beide den alten, aristokratischen Dilettanten noch erlebt hatten und nun der neuen verwässerten Kunstspielerei auf Schritt und Tritt begegneten. „Ich bin sehr dafür“, schreibt Schiller an Goethe (1799), „daß der Dilettantismus mit allen Waffen angegriffen wird.“ Von Goethe stammen aus dem gleichen Jahr Notizen, die zu einem nicht zur Ausführung gelangten Aufsatz zum gleichen Thema bestimmt waren. In einem exakten „Schema“ werden „Schaden und Nutzen“ bei den einzelnen Künsten abgehandelt. Wo das Subjektive vorherrsche, so vor allem in der Musik, könne Dilettantismus zur „Ausbildung der Sinne“ beitragen; wo hingegen das Objektive überwiege (Architektur, dramatische Dichtkunst), werde der „Flachheit und Leere“ Vorschub geleistet. Noch der Uralte wettert gegenüber Eckermann, daß die Dilettanten „immer etwas unternehmen wollen, wozu sie keine Kräfte haben“.

Vielleicht war der Dilettantismus deshalb für Goethe ein so gehaßter Gegner, weil er zugleich der heimlich geliebte Bundesgenosse war, den es zu verstecken galt. Wir wissen, daß es kaum einen Kunst- und Lebensbereich gab, in den Goethe nicht eingedrungen wäre. Thomas Mann nennt ihn „einen der umfassendsten Dilettanten, die gelebt haben“.

Doch hat es auch im 19. Jahrhundert nicht an Gegenstimmen gefehlt, und dies umso häufiger, je mehr man sich von der Klassik und ihren strengen Regeln entfernte, und das Streben nach Besitz allem Nutzlosen mißtraute. Schopenhauer, der selbst vorzüglich die Flöte spielte, schreibt 1851 in seinen „Parerga“: „Dilettanten, Dilettanten … nur der wird eine Sache mit ganzem Herzen treiben, der sich aus Liebe zu ihr damit beschäftigt. Von solchen, und nicht von den Lohndienern, ist stets das Größte ausgegangen.“

Um die Jahrhundertwende erstand in Alfred Lichtwark, dem Hamburger Museumsmann, der eifrigste Fürsprecher, ja sozusagen der Erneuerer eines sinnvollen Dilettantismus. Dieser große Kunstpädagoge hatte sehr wohl bemerkt, daß es um die Sache nicht zum besten stand. Der Dilettantismus war Teil eines Bildungsprogramms geworden, in dem sich der Wohlstand spiegelte. Das Piano, einerlei ob jemand darauf spielte, gehörte zur standesgemäßen Einrichtung. Die unbeschäftigte Höhere Tochter, ob musikalisch oder nicht, erhielt Klavierstunde, spielte Schumanns „Fröhlichen Landmann“, sang „Die Uhr“ von Löwe und malte Blumenaquarelle.

In Lichtwarks Schriften (1894) ist immer wieder zu lesen, daß der Dilettantismus nicht aus der Welt zu schaffen sei, deshalb müsse man einen legitimen Platz für ihn suchen. In der damals einsetzenden „Kunstgewerbebewegung“ hoffte er den Helfer zu finden. Töpfern, Sticken, Weben, Klöppeln sollten zum Gemeingut der Dilettanten werden und die Grundlage einer neuen Volkskunst bilden, auch müßten sich die Dilettanten zu Gruppen zusammenschließen. So kam es 1894 zu einer ersten Ausstellung von Dilettanten-Arbeiten. Sie füllte sieben Säle und acht Kabinette der altberühmten Kunsthalle. Da mußte der idealistische Veranstalter dann doch eingestehen, daß sich „die Mittelmäßigkeit breit und das Gute rar machte“. An seiner Grundüberzeugung hielt er dennoch fest: Der Dilettantismus lehre empfinden, was „schaffen“ sei und werde somit zum „Zuchtmeister der Nation“.

Sehnsucht nach schönerer Welt

Lichtwarks Anregungen richteten sich, seiner Zeit entsprechend, ausschließlich an die „höheren Stände“. Allein in den Kreisen der Wohlhabenden fanden sich die Voraussetzungen für ein zweckfreies Tun, nämlich Muße, Mittel, Bedürfnis. Ausgeschlossen davon waren noch auf lange Zeit die Besitzlosen, die Arbeiter, die alle Zeit und alle Kraft zum Erwerb des Lebensnotwendigen brauchten. Etwas von der Sehnsucht nach einer schöneren Welt, der man nicht angehörte, klingt aus Dehmels Gedicht: „Der Arbeitsmann“ (um 1900):

...uns fehlt nur eine Kleinigkeit,
um so frei zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.

Das änderte sich mit einem Schlage, als nach 1918 mit Einführung des Achtstundentages zahllosen Menschen das kostbare Gut „Zeit“ geschenkt wurde. Eine Fülle unverbrauchter Kräfte und Fähigkeiten kam ans Licht. Wo ein kleiner künstlerischer Funke glühte, wurde gemalt, gebastelt, musiziert. Das übelbeleumdete Wort „Dilettant“ verschwand aus dem Sprachgebrauch; nun war von Laienspiel, Liebhaberorchester, Freizeitkunst die Rede, vom Fotoamateur, vom naiven und Sonntagsmaler.

Die Machthaber des Dritten Reiches wußten diesen Drang nach künstlerischer Betätigung geschickt in ihre Propaganda einzubauen. Spiel und Gesang wurden gefördert, beim Erntedankfest wurde zum Volkstanz aufgerufen. Das böse Wort „Kraft durch Freude“ griff um sich. Aber befohlene Freude war noch nie wirkliche Freude. Der Krieg mit seiner ganz anderen Wirklichkeit setzte dem allen ein Ende.

Es hat in der Nachkriegszeit nicht an Unkenrufen gefehlt, die für eine nicht professionelle Kunst keine Möglichkeit mehr sahen: Radio, die immer vollkommenere Schallplatte, zunehmend dann das Fernsehen würden, so glaubte man, stumpfer Passivität Vorschub leisten. Es kam anders. Noch waren die Trümmer nicht beiseitegeräumt, als sich, beflügelt durch das neue Freiheitsgefühl, der schöpferische Impuls geradezu ungestüm Bahn brach. Der von einer Düsseldorfer Zeitschrift 1954 ausgeschriebene Wettbewerb „Werktätige malen“ erbrachte 1400 Einsendungen, meist freilich recht bescheidene Werkchen, die, von einer Jury auf einige Hundert reduziert, in der halbzerbombten Kunsthalle ausgestellt wurden.

Eine Ausstellung der Ruhrfestspiele „Arbeit, Freizeit, Muße“ (1953), die drei Stockwerke des Museumsbunkers in Recklinghausen füllte, ging das Thema vorsichtiger an. Den „Sonntagsmalern“ waren Meisterwerke gegenübergestellt. Damit wurde freilich auch an die empfindlichste Stelle des gesamten Phänomens gerührt: Wo ist die Grenze zwischen dem Dilettanten und dem „wahren“ Künstler? Rousseau, der simple „Zöllner“, maß sich mit Picasso und zählt zu den Unsterblichen. „Naive“ Kunst fand Eingang in die Museen.

Wir stehen heute an einem Punkt, wo die Unterscheidung zwischen dem Laien und dem „Professionellen“ immer schwerer wird. Die Grenze ist unsicher geworden, sie scheint zu schwinden. Nicht nur, daß die heutige Kunst mit ihren neuen Materialien, Abfallprodukten, Hölzern, Steinbrocken, Rohren, Stoffetzen, Fäden, dem Publikum als „Unkunst“ erscheint (was übrigens das Schicksal jeder neuen Kunst ist, man denke an den Impressionismus). Es ist der „erweiterte Kunstbegriff“, der die allgemeine Verunsicherung bewirkt. Als Marcel Duchamp 1914 einen Flaschentrockner – durch Auswahl, Isolierung, Signatur – zum Kunstwerk erklärte, war das Banale in die künstlerischen Bereiche eingedrungen. In der Dada-Bewegung trat der Spielcharakter der Kunst dann deutlich hervor. Kein Wunder, daß Hesses „Glasperlenspiel“, diese Huldigung an den Homo ludens, nach dem Krieg von so starker Wirkung war.

Der „erweiterte Kunstbegriff“, wie er heute verstanden wird, ist an den Namen von Joseph Beuys geknüpft. „Kreativität“ ist das Schlüsselwort und meint das schöpferische Vermögen, das in jedem Menschen und auf allen Ebenen, auch der politischen, vorhanden sei. „Kunst gleich Leben – Leben gleich Kunst“ (Beuys). Viele Jüngere leisten Beuys Gefolgschaft. „Es gibt nichts, was nicht Kunst sein kann“ (Klaus Rinke). Das Rätsel „Kunst“ ist freilich damit noch immer nicht gelöst. Bleibt Picassos oft zitiertes Wort. Befragt, was „Kunst“ denn nun sei, gab er zur Antwort, er wisse es nicht, „und wenn ich es wüßte, würde ich es für mich behalten“.

Der bedeutende Kulturphilosoph Rudolf Kassner spricht in einem Essay (1910) von einem Dilettantismus „aus Überfluß“ und meint damit den alten aristokratischen Dilettanten; der heutige Dilettant sei hingegen „aus Not“ zu seinem Tun getrieben. Auch hier ist die Grenze wohl fließend. Der einsame Flötenspieler von Sanssouci litt gewiß keine äußere Not und war doch ein Schwermütiger, der im Spiel Vergessen suchte.

Schöpferisches Gestalten hat heilende Kraft, welcher Art die Not auch sei. Die moderne Psychiatrie hat dies längst erkannt. Dilettantismus ist immer der Versuch, wenigstens für flüchtige Stunden glücklich zu sein.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 27. April 1985