Anna Klapheck Textforum

Die dritte Goethe-Stadt

Besuche in Düsseldorf und das „Insel“-Erbe

Selten nur, daß der Blick eines Vorübergehenden auf die schwarze Bronzetafel fällt, die an einem schmalen Düsseldorfer Bürgerhaus – Burgplatz 12 – angebracht ist. Mit einiger Mühe entziffert man:

In diesem Hause
dem früheren Gasthof
Prinz von Oranien
wohnte Goethe im Juli 1774.

Tafeln dieser Art gibt es viele, bis hinüber nach Böhmen und hinunter nach Italien. Die Düsseldorfer Tafel aber hat, das Schicksal anderer Düsseldorfer Denkmäler teilend, ihre eigene Geschichte.

Die Tafel wurde 1932, zum 100. Todesjahr Goethes, von dem eben begründeten und sogleich sehr rührigen Heimatverein „Düsseldorfer Jonges“ gestiftet. Nun war Goethes Aufenthalt in dem bescheidenen Gasthof keineswegs sehr denkwürdig, vermutlich war der flüchtige Gast sogar recht mißgelaunt. Goethe war, von Köln kommend, am 21. Juli 1774 morgens in Düsseldorf angekommen und sogleich voll Ungeduld nach Pempelfort geeilt, um die Brüder Jacobi zu besuchen. „…das Haus war leer, die Herrschaft verreist“, schreibt er an die gleichfalls abwesende Betty Jacobi. So wählte er als Notquartier eben jenen „Prinz von Oranien“, vor allem wohl deshalb, weil dieser genau gegenüber dem Galeriegebäude lag, auf das sich seine Blicke seit langem richteten und dem er einen ersten Besuch abstattete. Tags darauf fand dann die erste Begegnung mit Fritz Jacobi statt, abends fuhren sie gemeinsam nach Pempelfort.

Die „Kölnische Zeitung“ vom 11.5.1932 (nach Delvos, „Düsseldorfer Denkmäler“) machte denn auch Bedenken geltend, ob die Tafel dem Anlaß entspräche. Es fiel das harte Wort vom „Plakettenfimmel“. Nun, die Tafel war da, und wenn auch die Stadtverwaltung zur Einweihung nicht erschien, so wurde sie doch am 12. April 1932 der Bürgerschaft in Obhut übergeben.

Haus und Garten von Pempelfort sind sie „klassische“ Düsseldorfer Goethestätte, obwohl auch hier Düsseldorfer Denkmalsschicksal waltet, und dies Kleinod literarischer Erinnerung durch besondere Umstände den Blicken weitgehend entzogen ist. Der gesamte Besitz, im 18. Jahrhundert noch ein Gastbetrieb weit draußen vor der Stadt, wurde 1857 vom Künstlerverein „Malkasten“ erworben; ein mutiger Schritt, der verhinderte, daß die sich ausbreitende Stadt nach dem kostbaren Boden griff. In Wilhelminischer Zeit wurde ein pompöses Vereinshaus gebaut, das leider auf unglückliche Weise mit dem alten Jacobihaus verklammert wurde und dieses zur Seite drückte. Eine reguläre „Besichtigung“ des Hauses war nie möglich.

Jacobihaus und Vereinshaus wurden im Krieg schwer beschädigt. Verhältnismäßig früh ging man an den Wiederaufbau. Das Vereinshaus erhielt nun eine zeitgemäßere Form, das Jacobihaus wurde annähernd in den schönen, alten Maßen wiederhergestellt. Doch die unglückliche Verbindung der beiden Gebäude blieb. Das Jacobihaus ist nur über das Vereinshaus zu erreichen, und nur einige wenige Räume (Goethe-Zimmer, Jacobi-Zimmer mit alter Tapete) geben einen schwachen Abglanz von einst. Restaurant, Kegelbahn, Karneval und Sommerfeste verdrängen sentimentalische Gedanken. Unangetastet blieb der herrliche Garten mit seinen alten Bäumen, den die Düssel in sanfter Ruhe durchfließt. An dem kleinen See, zwischen Buschwerk fast versteckt, steht auf hohem Sockel eine Goethe-Büste. Beharrlich hat sich der „Malkasten“ allen Anstrengungen der Stadt widersetzt, den Garten „öffentlich“ zu machen.

Zweimal ist Goethe in Pempelfort gewesen, jenes erste Mal (1774) nur für zwei Tage, 18 Jahre später (1792), bei der Rückkehr von dem unglücklichen französischen Feldzug, für mehrere Wochen. Über beide Aufenthalte hat er selbst ausführlich berichtet (in „Dichtung und Wahrheit“, 14. Buch, und „Kampagne in Frankreich“). Das erste Mal gab es zunächst einige Mißhelligkeiten gegenüber den Jacobis auszuräumen. Allzu spöttisch hatte er sich über deren Zeitschrift „Iris“ geäußert und sie in einer Farce lächerlich gemacht. Doch die gereizte Stimmung wich, als er den Brüdern nun selbst gegenübertrat: Johann Georg, dem Dichter (1740-1814) und Friedrich Heinrich, „Fritz“, dem Philosophen (1743-1819). Johann schreibt in sein Tagebuch: „Wir gaben uns die Hand. Ich sah einen der außerordentlichsten Männer, voll hohen Genies, glühender Einbildungskraft, tiefer Empfindung …, dessen starker, dann und wann riesenmäßiger Geist einen ganz eigenen Gang nimmt.“

Goethe war von der „Anmut“ des Ortes sogleich verzaubert, Pempelfort wurde ihm zum „angenehmsten und heitersten Aufenthalt, wo ein geräumiges Wohngebäude, an weite, wohlerhaltene Gärten stoßend, einen sinnigen und sittigen Kreis versammelte“. Der zweite Aufenthalt war durch die Kriegsereignisse getrübt, Betty, die Frau des jüngeren Jacobi, der eigentliche Schutzgeist des Hauses, war gestorben. Doch der Ort erwies seine alte Anziehungskraft: „Im Sommer ein Paradies, auch im Winter höchst erfreulich.“ Das Haus war inzwischen erweitert worden, mit einem großen Saal im Erdgeschoß, eine „würdige Szene jeder geistreichen Unterhaltung.“ Es ist bekannt, wie viele Berühmtheiten in diesem „gastlichsten aller Häuser“ im Lauf der Jahre eingekehrt sind. Diderot, Basedow, Lavater, Herder, Wieland, die Brüder Humboldt sind nur einige von ihnen. Heinse, bekannt durch seine „Briefe aus der Düsseldorfer Gemäldegalerie“, gehörte gewissermaßen zur Familie.

Häufig führte der Weg in die Galerie, wo „die gewöhnliche Zusammenkunft“ war. Noch war das später über die kurfürstliche Galerie im Schloß hereinbrechende Unheil nicht zu ahnen, wenn auch die politischen Ereignisse von Paris her bereits zum Rhein herüberwirkten, und „ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte“. Bei seinem ersten Besuch in der Galerie hatte Goethes ganze Neigung noch den Niederländern gegolten; nun, auch unter dem Einfluß der italienischen Reise, waren es vornehmlich die Italiener, die seine Bewunderung erweckten. Angesichts einer „Himmelfahrt“ von Guido Reni habe einer seiner Freunde ausgerufen: „Ist es nicht, als wenn man aus einer Schenke in gute Gesellschaft käme!“ Unter solchen Unterhaltungen, so Goethe, „fand ich mir Gewinn fürs ganze Leben.“

So reich die Quellen über Goethes Aufenthalt in Pempelfort auch fließen, so mannigfach sich im Lauf der Jahre auch weitere Beziehungen zwischen Goethe und Düsseldorfer Künstlern ergaben (man denke nur an Peter Cornelius), dies alles hätte nicht gereicht, Düsseldorf neben Frankfurt und Weimar zur „dritten Goethestadt“ zu machen, ein Ehrentitel, den man in letzter Zeit häufig nennen hört. Zur „Goethestadt“ wurde Düsseldorf erst an jenem bedeutungsvollen 13. Februar 1953, als auf Grund eines Stiftungsvertrags mit den beiden Töchtern von Anton und Katharina Kippenberg die berühmte Sammlung des Leipziger „Insel“-Verlegers in den Besitz der Stadt überging und damit den Grund zu dem hiesigen Goethe-Museum legte. Rechtsanwalt Werner Schütz und Bankdirektor Clemens Plassmann waren die aktivsten Förderer des Gedankens.

Als Ort für die Sammlung war von Anfang an das ehemalige Hofgärtnerhaus vorgesehen, die Wohnung Weyhes, wo aber zugleich auch eine kleine Kaffeewirtschaft für die Spaziergänger aus dem nahen Düsseldorf betrieben wurde. Am 30. Juni 1956 wurde das Museum eröffnet, Ernst Bertram hielt die Eröffnungsansprache. Erster Leiter war der stille und feinsinnige Hellmuth von Maltzahn, nach dessen Tod folgte ihm 1966 der heutige Direktor Jörn Göres.

„Als Schöpfung lebenslanger Liebe und verehrender Freude wurde sie (die Sammlung) wohl aber außerordentlichster Nachlaß eines deutschen Bürgerhauses unserer Tage“, so charakterisierte Ernst Bertram in seiner Gedenkrede den Düsseldorf nun zugefallenen Besitz. Daß dieser Besitz jäh und unbarmherzig aus seiner angestammten Umgebung herausgerissen und heimatlos geworden war, wird für den Kundigen immer als Schatten über den Dingen liegen. Man muß das patrizische Haus in der Richterstraße von Leipzig-Gohlis noch gekannt haben, mit seinen hohen Räumen, den schönen alten Möbeln, dem liebevoll gepflegten Rosengarten, um an den Ursprung der Sammlung erinnert zu sein. Man lebte hier mit Goethe gleichsam auf vertrautem Fuß, die kostbaren Stücke reichten bis zum letzten Treppenabsatz. Ein Stück Insel-Geist ist mit der Sammlung nach Düsseldorf gekommen, die Porträts der Kippenbergs hängen im Eingangsraum des Museums.

Haus und Verlag gingen in den Bombennächten zugrunde. Die Sammlung war rechtzeitig geborgen worden und kam in die Obhut des Staatsarchivs Marburg. Dorthin wandten sich auch die Heimatlosen. Der Insel-Verlag übersiedelte nach Wiesbaden. Die Frage nach dem „Wohin“ der Sammlung mag Kippenberg in den letzten Lebensjahren vor allem bewegt haben; er starb1950 in Marburg, seine Frau war ihm 1947 im Tode vorausgegangen. Sein Wunsch war es, die Sammlung nicht den großen Goethestätten, etwa dem Frankfurter Hochstift, anzugliedern, sie sollte ihr Eigenleben behalten. Das ist mit der Wahl Düsseldorfs geschehen.

Den Bestand zu mehren, das Haus mit Leben zu erfüllen, Literaturgeschichte „anschaulich“ zu machen – dies ist die Aufgabe des Goethe-Museums. Zu den 25.000 Einzelstücken der Kippenbergschen Sammlung (Lebenszeugnisse, Bildnisse, Handschriften, Briefe, Druckwerke, Darstellungen von Landschaften und Bauten aus Goethes Welt) sind etwa 10.000 Stücke hinzugekommen, darunter allein 45 Zeichnungen Goethes, sieben im letzten Jahr. Da die Räume nur einen Bruchteil gleichzeitig zeigen können, holen Sonderausstellungen die verborgenen Schätze ans Licht. Die besten Goethe-Kenner, auch solche aus der DDR, halten Vorträge, für die sich eine nahezu feste Gemeinde gebildet hat.

Die Verbindung zu Weimar ist eng: Jörn Göres ist Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft, die in Weimar ihren Sitz hat. Ein Förderkreis mit etwa 100 Mitgliedern steht dem Leiter zur Seite. Dennoch sind nicht alle Wünsche erfüllbar, und die 50.000 Mark für die schöne marmorne Goethe-Büste von Rauch (1820), die derzeit als Leihgabe im Vestibül steht, sind nicht vorhanden. Wer hilft?

Goethe, das weiß man, hat seinen Namen gern mit dem Wort „Pate“ in Verbindung gebracht. Goethe als Pate der Stadt Düsseldorf, das ist ein gutes Omen und eine Verpflichtung zugleich.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 13. März 1982