Anna Klapheck Textforum

Für die Bretter schreiben

Professor Dr. Walter Hinck über „Goethe – Mann des Theaters“

Ein Vortrag des Prager Literaturhistorikers Hugo Rokyta über Goethes Freundeskreis in Böhmen war als Ergänzung der schönen Ausstellung „Goethes Badeaufenthalte“ gedacht. Doch man wartete vergeblich auf den Gast aus Böhmen, die Ausreise war ihm verweigert worden. In rascher Improvisation hatte der Museumsleiter in Walter Hinck, Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln „Ersatz“ gefunden. Sein Vortrag „Goethe – Mann des Theaters“ war jedoch wie man sogleich bemerkte, alles andere als „Ersatz“, er fesselte durch die Fülle des Stoffes und die liebenswürdig-überlegene Art der Darstellung; der Wechsel von Böhmen nach Weimar war leicht zu vollziehen.

Länger als ein Vierteljahrhundert war Goethe Weimarer Theaterintendant, für den vielbeschäftigten Staatsminister nur eine – überdies noch unbezahlte – Nebenbeschäftigung, dennoch unter seinen vielen Rollen sicher eine der wichtigsten. Denn die „Bühnentauglichkeit“ eines Stückes war für ihn, den großen Stückeschreiber, Voraussetzung und Maßstab. Daß man „für die Bretter schreiben“ müsse, war eiserner Grundsatz, das Theater sei der eigentliche Prüfstand der dramatischen Dichtung. In der ersten Fassung des „Wilhelm Meister“ („Wilhelm Meisters theatralische Sendung“) gibt Goethe höchst konkrete Anweisungen für die Praxis der Bühne.

Über diese Praxis, wie Goethe sie verstand, erfuhr man aus Hincks Vortrag viel kurzweiliges Detail, auch über das strenge Regiment, das Intendant Goethe über seine Schauspieler ausübte. Er probte mit ihnen die Rollen oft persönlich durch, ließ sich auch die Kritiken vor Erscheinen vorlegen. Er tat aber auch viel dazu, die soziale Lage der Schauspieler zu verbessern. Häufig und gern inszenierte er selbst, einige seiner Bühnenbildentwürfe (unter anderem für die „Zauberflöte“) sind erhalten.

Mit „V-Effekt“

Eine rein realistische Wiedergabe des Stückes lehnte er ab, Aufgabe der Regie sei es, „Illusion“ zu erwecken, wobei er auch, modern ausgedrückt, „Verfremdungseffekte“ durchaus zuließ. Das Theater sei kein Erziehungsinstitut für Musterschüler: „frisch aus der Pfanne“ müsse das Stück auf die Bühne kommen. Dem Geschmack des Publikums trug Goethe willig Rechnung und räumte auch der beliebten Trivialdramatik eines Iffland oder Kotzebue den ihr gemäßen Platz ein.

„Weltliteratur“

Andererseits hat er, zumal im Zusammenwirken mit Schiller, der „Weltliteratur“ um ersten Mal zur Bühnenwirklichkeit verholfen. Mit einem Spielplan, der von Sophokles über Shakespeare bis zu den modernen Franzosen reichte, schuf er einen Kanon, der bis heute gültig ist.

Mit der Frage nach der „Unantastbarkeit“ des Textes rührte der Vortragende an Probleme von heute. Erstaunlich modern mutet es an, daß Goethe Eingriffe in den Ablauf der Stücke, Straffung, Umordnung sehr wohl erlaubte, selbst allerhand „Allotria“ auf der Bühne gern duldete. Bei der Aufführung von „Romeo und Julia“ (1812) sei nahezu nur der Rumpf des Stückes übrig geblieben. Das Interesse der Zuschauer, die Befriedigung ihrer „Augenlust“, sei allem übrigen voranzustellen.

Eine Bagatelle, und zwar das Erscheinen eines lebenden Hundes auf der Bühne, erregte indes seinen Zorn, hier sei der Zirkus ins Theater vorgedrungen, unwillig legte er sein Amt als Theaterleiter nieder – ein Abschied ohne Wiederkehr. In der Rückschau erweist sich sein Entschluß jedoch nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Er konnte sich nun ohne die Lasten des Intendanten der Arbeit am zweiten Teil des „Faust“ voll zuwenden. Die Erfahrungen, die er in langer Theaterpraxis gewonnen hatte, sind in die Dichtung eingegangen, nur ist, was im Theater sinnlich erfassbar ist, nun in höchster Vollendung mit dem Geistigen verschmolzen. Lebhafter Beifall dankte dem großzügig eingesprungenen „Ersatzredner“ für seine anregende Lehrstunde.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 3. April 1982