Anna Klapheck Textforum

Frau Aja Wohlgemuth

Vor 250 Jahren wurde Goethes Mutter geboren

Klar und rund, ohne Schatten und – so will es scheinen, - ohne Geheimnis steht ihr Bild vor uns, das Bild der „alten Goethe“, wie Bettina sie kurzerhand nannte. Katharina Elisabeth Textor wurde am 19. Februar 1731 in Frankfurt geboren, heiratete mit 17 Jahren den Kaiserlichen Rat Johann Caspar Goethe und starb in ihrer Geburtsstadt am 13. September 1808. Und eben diese Bettina, die sich klug und wie ein zärtliches Kätzchen der Alternden zu Füßen schmiegte (im Grunde, um über sie dem immer leise abwehrenden Abgott in Weimar ein Stück näher zu sein) – Bettina, in einem ihrer sprudelnden Briefe an die Frau Rat, faßt die Summe dieses Lebens zusammen: „dank ichs Ihr ewig, daß sie mir den Freund in die Welt geboren . . . und hätt sie ihn nicht geboren, wo er dann geblieben wär, das ist doch die Frage“.

Unbeirrbare Optimistin

Es ist nicht schwer, die Züge dieser Frau zu fassen, und allem Philologenfleiß dürfte es kaum gelingen, neue, wesentliche Dinge ans Licht zu ziehen. Da ist alles bekannt und vertraut, Straße und Haus, Kammer, Küche und Gerät. Wir haben nahezu ein halbes Tausend ihrer berühmten Briefe, bereits 1904 von Albert Köster in zwei Bänden herausgegeben und seither immer wieder neu aufgelegt. Wir haben die Berichte der Besucher, die bei der Mutter des berühmten Sohnes einkehrten und von denen sie mit leisem Stolz sagt, „daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von ihr weggegangen ist“. Aus Bildnissen sieht sie uns an, mit wachen klugen Augen unter dichten Brauen und hoher Stirn, ein lustig aufsteigendes Näschen. Sich selbst hat sie in einem Brief an Fritz von Stein so beschrieben: „Von Person bin ich ziemlich groß und ziemlich korpulent, habe braune Augen und Haare … Viele Personen behaupten, es wäre gar nicht zu verkennen, daß Goethe mein Sohn wäre“.

Kein Wunder, daß die Statur etwas mollig, das Kinn ein wenig doppelt ist. Schreibt sie da etwa mitten aus den Tagen der Belagerung von Frankfurt, da die Kisten schon gepackt und alles zur Flucht vorbereitet ist, nach Weimar: „hat mir um fünf uhr mein Eyerkäß recht gut geschmeckt – und diesen Abend werden mir Ehlenlange Krebse die Last des Tages versüßen“. „Frau Aja Wohlgemuth“ ist der Brief unterzeichnet; Aja war die sagenhafte Schwester Karls des Großen, die begütigende Mutter der vier Haimonskinder. Und als die unverwüstliche Optimistin, die alle Dinge durch ein „rosenfarb Glas“ anschaut, als „Frohnatur“, wie ihr der Sohn nachdrücklich bestätigt hat, geht sie durch die Zeiten, Güte spendend und alle Güte mit „Dancksagung gegen Gott“ genießend.

„Glücklich sein“ ist nun freilich keine Folge äußerer Geschehnisse, sondern, wie Goethe sagen würde, „Natur“. Denn ein leichtes Leben war ihr keineswegs zugeteilt. Eine geregelte Schulbildung hatte sie nicht gehabt, mit der Orthographie stand sie zeitlebens auf Kriegsfuß. Nach ihrer Meinung über die Heirat mit dem um 21 Jahre älteren Mann wird sie, die Schultheiß-Tochter, nicht viel befragt worden sein, und der schwierige, pedantische Gatte hat sie denn auch gehörig gegängelt. Mehrere Kinder starben früh dahin. Mit Cornelia, der Vertrauten des Bruders, die 26jährig starb, hat ein wirklich herzliches Verhältnis nie bestanden. Der Sohn macht den Eltern Sorge wegen erster verworrener Liebeshändel. Krank kehrt der Student aus Leipzig zurück und bedarf langer Pflege. Ihr Mann beginnt früh zu kränkeln, wird immer starrköpfiger und schließlich völlig schwachsinnig. „Dabey ich was rechts leide“, bricht es da doch einmal aus ihr heraus.

Nachdem der alte Herr Rat gestorben ist, sieht es eine Zeitlang so aus, als ob nun leichtere Zeiten kommen würden. Sie vertauscht, mühevoll genug, das alte Haus am Hirschgraben mit einer geräumigen Wohnung am Roßmarkt, wo sie stets „freundliche Kurzweil“ vor Augen hat. Ein seltsamer, wenn auch zurückgehaltener Sturm später Leidenschaft muß damals in der Begegnung mit dem jungen Schauspieler Unzelmann über die Sechsundfünfzigjährige hinweggebraust sein. Als Unzelmann nach Berlin übersiedelt, bricht sie die Sache jäh ab.

Dann aber gehen endlose Kriegsleiden über Frankfurt hinweg, und des „Specktackels“ und der „Schwulitäten“ ist kein Ende. Als endlich geordnete Verhältnisse zurückkehren, finden sich in den Briefen Klagen über Einsamkeit und den oft anders gearteten Sinn ihrer Umgebung. Erst in den letzten Lebensjahren kommt auch von außen Gleichmaß in ihr Leben. „Die Großmutter ist gantz Allegro“, schrieb die 77jährige, und wie ein Siegel unter alles Gewesene unterschreibt sie einen der letzten Briefe an den Sohn, drei Monate vor ihrem Tod, mit der bis dahin nicht vorgekommenen Wendung: „deine glückliche und treue Mutter Goethe“.

Nie in Weimar gewesen

So scheint denn alles klar im Bilde der Frau Aja und nirgends eine Lücke. Und doch bleibt von einer Seite her ein Rest von Dunkel, auch das klarste Leben hütet ein Geheimnis: Goethes innerstes Verhältnis zu seiner Mutter kennen wir nicht. Gewiß fehlt es nicht an freundlichen Äußerungen über sie, nie bleibt er den kindlichen Respekt schuldig, die Hingabe des Knaben an die jugendliche Märchen-Erzählerin ist bekannt. Liest man die Briefe der Mutter indes aufmerksam und hält die wenigen Briefe des Sohnes, die erhalten blieben, dagegen, dann tritt Goethe aus einer gewissen kühlen Reserve kaum heraus. Jenes innige Mutter-Sohn-Verhältnis, das die populäre Goethe-Literatur bereithält, hat zweifellos nicht bestanden. „Mein Verlangen, Sie einmal wiederzusehen, war bisher immer durch die Umstände, in denen ich hier mehr oder wenig nothwendig war, gemäßigt“ heißt es, nachdem er zwei Jahre in Weimar lebt. Sein Eifer, sie zu besuchen, war nie sehr groß. Nur zweimal in 33 Jahren war er, stets in Verbindung mit anderen Reisen, längere Zeit in Frankfurt. Während ihrer letzten elf Lebensjahre wartet die Mutter vergeblich auf ihn.

Von einem Besuch der Frau Rat am Frauenplan ist in den Briefen nur sehr unbestimmt die Rede. Goethe erzählt Eckermann in späten Jahren, die Herzogin Anna Amalia habe gewünscht, seine Mutter möge für immer nach Weimar kommen, doch er habe dies abgelehnt. Die Frau Rat Goethe ist nie in Weimar gewesen. Mit Briefen wird sie, die unermüdliche Briefschreiberin, wenig verwöhnt. „Sie wissen, Herr Merck, daß die Leute dort so oft nicht schreiben“. Auch in Goethes Dichtung finden wir nur selten die mütterliche Spur. Die Hausfrauen im „Götz“ und in „Hermann und Dorothea“ tragen doch nur sehr allgemein die Züge der Mutter, in „Dichtung und Wahrheit“ sucht man ihr eigentliches Charakterbild vergeblich. War Goethes fast ängstlich gewahrte Distanz zur Mutter nur Scheu, an das tiefste Band zu rühren? Oder ging ihm, herzhaft gesagt, die lustige Frankfurterin am Ende doch auf die Nerven? Gewiß fühlte er, daß sie in das Weimarer Klima nicht passe, und je gemessener seine Lebensart wurde, desto mehr entfernte er sich von ihr.

Die Mutter hat sehr wohl gewußt, daß es doch „eine große Kluft“ sei zwischen Weimar und Frankfurt, daß sie mit Briefen und Liebesbeteuerungen sparsam zu sein hatte und denen in Weimar ganz andere Dinge am Herzen lagen. Merken indessen darf das keiner, und so verteidigt und entschuldigt sie den Sohn, wo sie nur kann. Als die Reise nach Weimar gar nicht zustande kommen will, und man bereits darüber zu tuscheln beginnt, da dreht sie den Spieß um und verkündet aller Welt, daß „Reißen“ sei nun einmal nicht ihre Sache. Um denen dort aber doch nahe zu sein, richtet sie am Hirschgraben ein eigenes Zimmer ein, in dem alles verwahrt wird, was aus dem „gebenedeyten Weimar“ zu ihr gelangt.

Von Weimar zu erfahren, darauf ist all ihr Sinnen gerichtet, und so wird sie, die allzeit offene, zur geheimen Diplomatin, steckt sich hinter Goethes Freunde und sogar seinen Kammerdiener. Eine Zeitlang ist es Fritz von Stein, später dann Christiane, über die die Verbindung geht. Ein Wort des Vorwurfs sucht man in den Briefen jedoch vergebens. Was der Sohn tut, ist gut, nie redet sie drein. Sie nimmt Christiane, die sie unbekümmert seinen „Bettschatz“ nennt, sofort mütterlich ans Herz. Große Geldsummen, wenn sie sie eben flüssig machen kann, werden nach Weimar geschickt. Wenn sie ihn nur beschenken und verwöhnen kann, wenn nur der Rheinwein, die frischen Kastanien, das Spa-Wasser, das ihm so gut tut, rechtzeitig in Weimar eintreffen. Feine Tuche, Konfekt, Spielzeug gehen an Christiane und die Enkel ab.

Ein einziges Mal wagt sie Widerspruch. Als Goethe, im Wünschen keineswegs bescheiden, sie um eine kleine Guillotine als Spielzeug für die Enkel bittet, da sagt sie entschieden nein. „Eine solche infame Mordmaschine zu kaufen – das tue ich um keinen preiss“.

Mutter-Sein als Sinn

Frau Aja hat gelernt, zu verzichten, aber Bitterkeit ist nie daraus entstanden. Im Gegenteil. Über das nur eine Mutter-Sein wächst sie hinaus zur All-Mutter und nennt alle, die bei ihr aus- und eingehen, Lavater, Wieland und wer auch immer kam, ihre geliebten Söhne. Wie aus Patriarchenmund kommen die schönen Worte an Bettina: „Du sollst mich Mutter heißen in Zukunft für alle Tage, die mein Alter noch zählt, es ist ja doch der einzige Name, der mein Glück umfaßt“.

Zwanzig Jahre nach ihrem Tode, 1828, schrieb Goethe die Szene, in der Faust hinabsteigt zu den Müttern. „Von ihnen sprechen ist Verlegenheit“, bemerkt Mephisto spöttisch, als sie sich gemeinsam zu ihrem Gang „ins Unbetretene, nicht zu Betretende“ anschicken. Schaudernd fühlt Faust, nun im „tiefsten Grund“ angelangt zu sein. Im Bilde der Mütter erkennt er die Urbilder alles Lebendigen, erkennt er das Dauernde im Wechsel aller Erscheinungen. Goethesche Altersweisheit ist in der von Plutarch übernommenen Fabel zusammengefaßt. Und doch mag aus dem Dunkel der Symbole eine leise Spur zurückzuführen zu dem Frankfurter Bürgerkind, dem seine Geburt anvertraut war.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 14. Februar 1981