Anna Klapheck Textforum

Die rätselhafte Gattung

Prof. Dr. Heinz Rölleke sprach im Goethe-Museum über Grimms Märchen

Die von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten und 1812 – 1814 herausgegebenen „Kinder- und Hausmärchen“ haben seit Generationen ihren festen Platz im deutschen Geistesleben, und ihr Einfluß auf Bildung und Kunst hält noch immer an. Nach dem Kriege hat man versucht, sie zu verdächtigen: sie gefährdeten das kindliche Gemüt und erweckten die Lust am Grausamen. Diese Gerede ist wieder verstummt, das Interesse am Märchen aber hält unvermindert an. Nachdem Diederichs mit seiner berühmten Märchen-Reihe vorangegangen ist, erscheinen heute in vielen Verlagen weitere Editionen, die Wissenschaft hat sich der Märchenforschung erneut bemächtigt.

Zum Abschluss des winterlichen Vortragszyklus im Goethe-Museum sprach Professor Dr. Heinz Rölleke im dichtgefüllten Saal über „Grimms Märchen als Phänomen und Problem“. Rölleke, Ordinarius für Germanistik und Volkskunde an der Gesamthochschule Wuppertal, ist wissenschaftlich besonders mit der Romantik befaßt und selbst Herausgeber einer wohlfeilen Gesamtausgabe der Grimmschen Märchen bei Reclam. In seinem sachlichen, doch keineswegs langweiligen, mitunter sogar humorvollen Vortrag nannte er das Märchen jene „rätselvolle Gattung der Poesie“, an der sich der Streit der Gelehrten von jeher entzündet habe. Über die Entstehung der Grimmschen Märchen – die „Märchen schlechthin“, wie er sagte –, über ihr Alter, ihre Bedeutung sei man sich noch immer weitgehend uneins.

Schon die Frage, ob diese Märchen an bestimmten Orten oder gleichzeitig an verschiedenen Stellen entstanden seien, ist kaum einhellig zu beantworten. Was ihr Alter anbelangt, bewegt sich die Forschung in Extremen; man hat ihre Entstehung bis 10 000 v. Chr. zurückführen wollen. Erst recht stoße man in ein Wespennest, wenn es sich um die Frage nach der Bedeutung der Märchen handle. Die Romantiker sahen in ihren einen „Kanon der Poesie“ und metaphysische Sinngebung. Auf ihre Herkunft aus dem germanischen Mythos hat man oft verweisen, dann wieder auf indischen Ursprung. Freud rückte sie in die Nähe der Träume, man brachte sie in Beziehung zum Walten der Gezeiten und Gestirne. In marxistischen Ländern liest man einen sozialkritischen Anspruch heraus.

Was das Märchen seinem eigensten Wesen nach ist, erläuterte der Vortragende an einigen ausgewählten Beispielen. Märchen sind fast immer kurz, doch passiert viel in wenigen Seiten. Sie sind zeitlos („Es war einmal“) und spielen im Nirgendwo. Sie sind bestimmt durch das Wunder, ihr Inhalt steht gegen das Naturgesetz, doch das Wunderbare ist in ihnen selbstverständlich, es gibt keine Erklärung, kein „weil“ und damit auch keine Moral. Dämonen gehen in ihnen um, in urtümliche Bereiche werden wir geführt, die Namensverschlüsselung spielt eine wichtige Rolle (Rumpelstilzchen), denn der Name ist Teil des Menschen selbst, so wie seine Lebenskraft in ihm und zugleich in einem Wesen außer ihm wirksam ist (Totemismus).

Die Brüder Grimme, in ihrer Denkart schon das Biedermeierliche streifend, haben manche Märchen, entgegen ihrer ursprünglichen Fassung verharmlost und sentimentalisiert. So wird beispielsweise bei den Grimms Dornröschen durch einen schlichten Kuß des Prinzen erweckt – dem steht eine weit ausführlichere französische Fassung des Vorgangs gegenüber, der es an erotischen Andeutungen nicht fehlt.

Auf die abwegige Meinung, die Märchen erweckten im Kinde böse Triebe, ging der Vortragende gar nicht erst ein, seine ganzer Vortrag widerlegt diese Behauptung. Vor allem aber haben die Grimms selbst solchen Vorwürfen vorgebeugt. In ihrem Vorwort zur ersten Ausgabe ihrer Sammlung schrieben sie: „Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung . . . der rechte Gebrauch aber findet nichts Böses heraus“.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 4. April 1981