Anna Klapheck Textforum

Hunger nach Kunst

1946 – Neuanfang: Zeitungsleute erinnern sich

Prof. Dr. Anna Klapheck hatte Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie studiert. In den zwanziger Jahren lernte sie in Düsseldorf den Künstlerkreis um Mutter Ey kennen. Seit 1952 war sie Dozentin an der Kunstakademie. Im Feuilleton der Rheinischen Post schrieb sie unvergessene Kritiken. Sie starb vor wenigen Tagen.

Wir hungerten und wir froren, aber wir waren glücklich. Wir durften schlafen, und kein schriller Sirenenton jagte uns nachts in den Keller. Wir konnten die Fenster auch bei Dunkelheit weit offenhalten, und das zerknitterte, gehasste Verdunklungspapier verschwand im kleinen eisernen Ofen. Wir brauchten das Kissen nicht mehr über den Telefonhörer legen, wenn wir miteinander sprachen, es gab keine Aufpasser, keine Spitzel, keine Denunzianten mehr. Wir waren frei – der Krieg war zu Ende.

Mein Sohn ging nun in die Sexta des Humboldt-Gymnasiums, nachdem er seine Bildung in der erzgebirgischen Dorfschule bezogen und dort, wie die anderen Dorfjungen, für irgendwelchen Unfug auch gelegentlich Prügel bezogen hatte. Noch immer war unsere Straße unter Trümmern begraben, ein schmaler Trampelpfad schuf die Verbindung zur Außenwelt. Aber, o Wunder, die Trümmer begrünten sich, rosa Weidenröschen sprossen in Fülle hervor, ich pflückte Sträuße direkt vor der Haustür. In den verwilderten Gärten, deren Mauern vielfach eingestürzt waren, fanden sich Erdbeeren und Johannisbeersträucher. Ich nahm, wie einst die Siedler in Amerika, ein herrenloses Stück Land in Besitz, grub es um und steckte ein paar Bohnen hinein, Sie gingen tatsächlich auf und wir hatten zwei köstliche Mahlzeiten.

Und nun, wo der Schreibtisch da war, der Wasserstrahl lief und nach einiger Zeit sogar eine Wasserspülung in Gang kam, erwachte bei uns allen, die wir zwölf Jahre abseits gestanden hatten, ein gewaltiger Hunger nach geistiger Arbeit. Der Kopf war ausgeruht, wir waren merkwürdig gesund in dieser Zeit des Mangels, alle Kräfte waren frei. Es war nicht schwer, Arbeit zu finden. Es gab viele schmerzliche Lücken unter den Kollegen, einige waren noch in Gefangenschaft, die Verbindung von Ort zu Ort war gering. Manches bot sich mir an, doch ich zog es vor, zunächst möglichst frei zu bleiben. Also faßte ich den Journalismus ins Auge, in dem ich vor dem Krieg schon einige Erfahrungen gesammelt hatte.

Noch war das Zeitungswesen für den Außenstehenden unübersichtlich, die von den Engländern herausgegebene Neue Rheinische Zeitungerschien anfangs nur zweimal in der Woche in geringem Umfang, auf schlechtem Papier und in winzigen Lettern gedruckt. So geriet ich zunächst an das Rhein-Echo. Die Redakteure saßen in einem einzigen Raum, um einen großen Tisch versammelt, die alten Schreibmaschinen dröhnten, Unterhaltung war schwierig. Über die Düsseldorfer Kunstereignisse schriebe sie selbst, sagte mir die Redakteurin, aber vielleicht könne ich mich ein wenig in der Umgebung umsehen, so habe die wiederbegründete „Rheinische Sezession“ zur Zeit in Aachen ausgestellt – Düsseldorf verfügte noch nicht über geeigneten Ausstellungsraum.

Die erste Nachkriegsreise nach Aachen ist mir unvergeßlich. Der linksrheinische Zugverkehr begann auf dem alten Oberkasseler Bahnhof. Also erst einmal über den schwankenden Steg, den die Engländer für die Fußgänger über den Rhein errichtet hatten, und weiter zum Bahnhof. In schuckelnder Fahrt, in ramponierten Waggons erreichte ich am Abend Aachen. Die Redaktion hatte mich zur Nacht vorsorglich in einem Kloster angemeldet, die Nonnen nahmen mich freundlich auf, wollten nicht einmal Geld. Ich erhielt eine schmale Zelle zum Schlafen und eine vorzügliche Milchsuppe zum Abendessen.

Das Wiedersehen mit den Bildern der rheinischen Freunde beglückte mich. Bewegend war der anschließende Gang zum Münster. Der Ostchor war noch nicht wiederhergestellt und mit einer Bretterwand gegen das Oktogon abgeschlossen. So kam der karolingische Rundbau, in dem nach der frühen Besetzung Aachens durch die Alliierten ein erstes gemeinsames Te Deum stattgefunden hatte, in seiner Urform zur Geltung, so wie später nie wieder. Am 29. Juni 1946 erschien mein erster in der Nachkriegszeit geschriebener Artikel: „Die Rheinische Sezession in Aachen“.

Die Bibliothek der Kunstakademie war mitsamt dem Dia-Archiv aus ihrem Bergungsort unbeschädigt zurückgekehrt und im Keller des angeschlagenen Hauses am Eiskellerberg wieder aufgestellt worden. Es war gut geheizt dort, und so hatte ich bald meinen festen Platz zwischen den Büchern. In der Lichtbildsammlung stellte ich mir einen Vortrag zusammen unter dem Titel „Wiederbegegnung mit Kunstwerken“, in dem ich vor allem die „Entarteten“ und Verfemten berücksichtigte. Das Archiv enthielt aus der Vorkriegszeit ganz leidliches Material zum Thema, ein paar neue Dias – Picasso, Max Ernst – konnte ich mir anfertigen lassen.

Mit diesen Dias und einem sorgfältig ausgearbeiteten Text fuhr ich nun in die kleinen Städte der Umgebung, bald konnte ich den vielen Angeboten kaum mehr nachkommen, denn jede Stadtverwaltung wollte doch modern und zeitgemäß sein und zeigen, daß sie der Nazi-Kunst abgeschworen hatte. Wieder gab es mühsame Bus- und Bahnfahrten, ich übernachtete (an ein Hotel war nicht zu denken) bei den Honoratioren der jeweiligen Stadt, sah meinen Namen an den Litfaßssäulen und hatte volle Säle. Ich bekam 200 Mark für jeden Vortrag, dafür kaufte ich ein halbes Pfund Butter auf dem Schwarzmarkt. Mancher Bürgermeister steckte mir auch noch ein paar Äpfel aus seinem Garten zu.

Beim Blättern in den alten Zeitungsgeschichten, beim Anblick des brüchig gewordenen Papiers trat mir die Epoche von 1946/47 wieder deutlich vor Augen. Sie war durch Not und Mangel gekennzeichnet, aber entbehrte dennoch nicht einer gewissen Romantik. Wir hatten das Glück, wieder zu Haus zu sein, und wir waren frei.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost, 1. März 1986