Anna Klapheck Textforum

Der Berg des Dichters

Fritz Martini über Goethes „Harzreise im Winter“

Einen „einsamen, wunderlichen Ritt“ nannte Goethe im Rückblick seine Besteigung des Brocken, jene „winterliche Irrfahrt“, die zum Anlaß eines der großen dithyrambischen Gedichte der frühen Weimarer Jahre wurde: „Harzreise im Winter“. Am 10. Dezember 1777 hat er, allen Warnungen der Talbewohner zum Trotz, durch dichten Nebel über verschneite Felder dahinreitend, den „gefürchteten Gipfel“ tatsächlich erklommen. Das Abenteuer war so waghalsig, daß Spätere an seinem Wahrheitsgehalt sogar gezweifelt haben.

Über das Gedicht und seine biographischen Hintergründe sprach Professor Fritz Martini (Stuttgart) im Goethe-Museum. Es war ein Vortrag in Goetheschem Sinne: kein Ausbreiten vom „Hundertfältigen“, sondern ein Sich-Beschränken auf „Eines“, von diesem „Einen“ aber ein Hinführen zum Allgemeinen.

Der äußere Anlaß der Reise, dessen eigentliches Ziel - die Bergbesteigung - Goethe zunächst streng geheimgehalten hatte (er reiste auch unter angenommenem Namen), war vielfältiger Art. Die Weimarer Hofgesellschaft jagte bei Eisenach, so daß er sich ihr leicht zugesellen konnte. Außerdem wollte er als Mitglied der Herzoglichen Bergwerkskommission den Harzer Bergbau und auch die ihm bis dahin unbekannte Harzer Landschaft kennenlernen. Schließlich plante er einen Besuch in Wernigerode, von wo aus ihm ein junger Mann namens Plessing seit längerer Zeit Briefe geschrieben hatte, in denen er seine Verzweiflung und „selbstische Qual“ vor dem Dichter des Werther ausbreitete. Goethe hatte die Briefe nie beantwortet, wollte dies Versäumnis durch sein Kommen nun aber gutmachen.

Auf alle diese Dinge finden sich Anspielungen in dem Gedicht. Da ist von den „Brüdern der Jagd“ die Rede, von den „Adern“ im Berg, von dem „Unglücklichen“, dem sich „das Herz zusammenzog“. Die Harzer Landschaft leuchtet in allen Farben, Goethe hat die damals gemachten Beobachtungen später in seine „Farbenlehre“ übernommen. Die Literaturgeschichte hat auf diese Zusammenhänge beharrlich hingewiesen.

Dem Redner kam es jedoch darauf an, das Gedicht von den allzu vordergründigen Beziehungen loszulösen und über sie hinauszuführen. Aus der Hochstimmung und dem sprachlichen Pathos, die die Verse durchziehen, spricht letztlich doch nur Goethes subjektives Erleben. Für kurze Zeit befreit von den Fesseln des Hoflebens, entdeckt er neu die Natur, das Einfache, das Volk. Die Landschaft wird nicht geschildert, sondern in Zeichen umgesetzt. In dem unglücklichen Plessing erkennt er die eigene Werther-Rolle, die er von sich abzuschütteln vermocht hatte.

In einem euphorischen Glücksrausch erlebt er eine Art Neugeburt, die Brockenbesteigung wird zu einem symbolischen Akt, der dazu führt, sich dem Willen der Götter zu unterwerfen und sich dem Altar der Liebe zu nähern, Goethes Sprache bemächtigt sich der biblischen Ausdrucksweise, „die Irrfahrt“, so Martini, „wird zur Wallfahrt“. Aus den in diesen Tagen an Charlotte von Stein gerichteten Briefen ist die innere Erregung durchzufühlen. Die Harzreise bedeutete für Goethe eine Befreiung und Umkehr, noch in hohem Alter nannte er sie „eine bedeutende Lebensepoche“.

Einer genauen Deutung des Gedichts hat sich Goethe stets entzogen. Auch die 1820 veröffentlichten Anmerkungen, die er auf Anregung eines Schulmannes niederschrieb, geben sein Geheimnis nicht preis. In der äußeren „Architektur“ der Dichtung, die das „Ordnungslose“ zu bannen weiß, steckt viel, was uns heute vertraut ist, wenn auch der „Mythos der Berge“ kaum mehr existiert. Die „Harzreise im Winter“, vor genau zwei Jahrhunderten entstanden, bedarf keiner schulmeisterlichen Auslegung; sie trägt ihre Deutung und auch ihre Dauer in sich selbst.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1978