Anna Klapheck Textforum

Ein Stück eigenen Lebens

Horst Rüdiger sprach über Goethes „Römische Elegien“

Wieder, wie beim letzten Mal, war eine einzige Versdichtung Goethes das Thema eines Vortrags im Goethe-Museum: Professor Horst Rüdiger, vergleichender Literaturwissenschaftler (früher Bonn, jetzt in Südtirol lebend), sprach über Goethes „Römische Elegien“, wobei er die in Goethes Dichtung eingegangene antike Tradition in den Vordergrund rückte. Die zahlreich erschienen Goethe-Gemeinde folgte gespannt den anspruchsvollen Darlegungen.

Rüdiger verglich die „Elegien“ mit den anderen großen Liebesdichtungen der Weltliteratur; mit Petrarcas „Canzoniere“, mit Shakespeares Sonetten. Doch sind die Elegien, anders als jene, keineswegs geheimnisvoll, vielmehr voll prallen Lebens und angesiedelt im damaligen Rom. Faustine, die Geliebte (ihr Name wird ein einziges Mal genannt), gehörte den unteren Ständen an, sie war ein Mädchen, das sich von den feinen Herren aushalten ließ und in der Liebeskunst wohlerfahren war.

Sie war also eine Gestalt, die der Antike nicht fremd war, und es gibt der Fäden genug, die vom Altertum zu Goethes Hexametern hinführen. In der 5. Elegie ist ausdrücklich von den „Triumvirn“ die Rede, jenen drei antiken Dichtern, denen Amor besonders dienstbar war: Catull, Tibull und Properz. Hinzuzufügen wären noch Vergil und Horaz, und selbst eine Episode bei Homer ist in die Dichtung eingegangen.

Als Beispiel führte der Redner die liebenswürdige Szene der 15. Elegie an, bei der die Geliebte in einer Schenke mit „zärtlichem Finger“ eine römische „Vier“ in den verschütteten Wein einschreibt, Hinweise auf die in vier Stunden zu erwartende Liebesstunde. Solche geheime Zeichensprache kannte auch das Altertum, sie mag noch im 18. Jahrhundert zwischen Liebenden Brauch gewesen sein.

Doch hier, wie auch an anderen Stellen, hat Goethe die antiken Vorbilder nur äußerlich übernommen, er hat sie umgedeutet und stets auf die eigene Situation bezogen. Die 19. Elegie ist voll von klassischen Reminiszenzen. Sie erzählt von einem handfesten erotischen Verkleidungsspiel, bei dem die Göttin „Fama“, die stets Gehässiges verbreitet, von Amor, dem allgegenwärtigen Gott, übertölpelt wird und eine schwere Schlappe hinnehmen muß. Hier hat Goethe seine klassischen Helden vollends entheroisiert und ein Stück eignen Lebens einfließen lassen.

Goethe schrieb den Hauptteil der „Elegien“ nach seiner Rückkehr aus Rom (1788) und zur Zeit seiner ersten Begegnung mit Christiane. Der Weimarer Gesellschaft und ihrer Klatschsucht wird mit dieser Elegie eine gründliche Lehre erteilt. Überhaupt verschmelzen Faustine und Christiane zu einer einzigen Gestalt. Die antike Überlieferung gibt nur den Rohstoff, Goethes Sache war es, „umzuschaffen das Geschaffene“.

Die „Elegien“ beschwören noch einmal das Glücksgefühl der römischen Tage. Im hohen Alter sagt Goethe zu Eckermann, er sei später nie wieder recht froh geworden. Die „Elegien“ gehören zu den wenigen Werken Goethes, in denen kein trauriger Ton anklingt, sie sind, so der Redner, nur dem „Erquicklichen“ im Leben gewidmet.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. Februar 1978