Anna Klapheck Textforum

Ewige Quelle Natur

Die Scherenschnitte von Philipp Otto Runge

Die große Runge-Ausstellung 1977 in Hamburg hat das Bild dieses „seltenen Geistes“ (Lichtwark) erneut ins Bewußtsein gerückt. Sie konnte sich in wesentlichen Teilen auf die zwei Jahre vorher erschienene Monographie von Joerg

Traeger stützen, die ein erstes kritisches Werkverzeichnis enthielt. Auch eine Anzahl der Runge’schen Scherenschnitte waren ausgestellt, die meisten gehören der Hamburger Kunsthalle. Werner Hofmann, der Direktor, hat ihnen damals ein kleines Buch gewidmet.

Ein vollständiges Verzeichnis und eine kritische Würdigung der Scherenschnitte stand indes noch aus. Auf Anregung Traegers ist nun Cornelia Richter in ihrer Dissertation dem Thema mit großer Gewissenhaftigkeit nachgegangen und dabei 262 Scherenschnitten Runges auf die Spur gekommen, die sie sorgfältig katalogisiert und beschrieben hat. Ihre Untersuchungen greifen aus in den gesamten Bereich romantischer Malerei und Dichtung. Der Schirmer-Verlag gab der Arbeit eine hervorragende buchkünstlerische Form.

Der Scherenschnitt und die ihm verwandte Silhouette waren eine biedere, bürgerliche Gebrauchskunst, bekannt sind die Silhouetten des Weimarer Kreises. Stammbuchblätter, Spitzenmuster wurden mittels der Schere hergestellt. Auch in der Familie Runge wurde das „Ausschneiden in Papier“ fleißig geübt. Runge entwickelte schon mit elf Jahren eine erstaunliche Fertigkeit und blieb dieser Tätigkeit Zeit seines Lebens treu. Er maß ihr keine überhöhte Bedeutung zu. Runges „Fingerübungen“ mit der Schere umfassen figürliche Darstellungen, Porträts und Karikaturen. Etwa drei Viertel aller noch existierender Schnitte, fast durchweg aus weißem Papier, sind jedoch Pflanzendarstellungen, und diese sind auch der wesentliche Inhalt des Buches.

Daniel Runge berichtet, wie sich sein Bruder „auf Spaziergängen, gleichsam botanisierend und den Gegenstand bis zur Wurzel verfolgend“ genaue naturwissenschaftliche Kenntnisse angeeignet habe. Doch vermochte er, von der Einzelheit zur „Totalität“ und damit zur Gesetzmäßigkeit, zur Stilisierung, ja sogar zu einer gewissen Abstraktion seiner Gebilde vorzudringen. Die „Regularität“ der Formen wird besonders deutlich bei den „Faltschnitten“ (halbseitiger Schnitt aus gefaltetem Papier), wobei sich „die Natur in die Idee fügen muß“ – ein sehr romantischer Gedanke, der auch Runges Malerei durchzieht.

Der sich rasch verbreitende Ruhm der Runge’schen Scherenschnitte drang auch nach Weimar, und Goethe erbat sich 1806 von Runge ausdrücklich Bildsilhouetten und „ausgeschnittene Blumen“. In seinem Dank spricht er von einem „ganzen Garten“ von Blumen, mit denen er sein Zimmer schmücken wolle.

Die Verfasserin verfolgt das Thema „Scherenschnitte“ weiter durch die Kunstgeschichte. Besonders im Jugendstil stößt man auf Runges Spur. Zu einer letzten Steigerung kam der Scherenschnitt in den „découpages“ des späten Matisse. Er geht ganz im Sinne Runges, von der Natur als „ewiger Quelle“ aus und gelangt von hier aus zu geometrischer Vereinfachung und ornamentalisierender Abstraktion.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post am Sonntag. Das neue Buch, 23. Januar 1982