Anna Klapheck Textforum

Eine Schule des Sehens

Recklinghausens „imaginäres Museum“ / Stolze Bilanz

An äußerem Glanz hat es den Ruhrfestspielen immer gefehlt. Sie wurden geboren aus der Not der Nachkriegszeit, als die meisten Bühnenhäuser zerstört, die Kunstwerke noch in Depots ausgelagert waren. Allein aus dem geistigen Hunger dieser Jahre zog das Unternehmen seine Kraft. Theatergespielt wurde in einem unansehnlichen Saal, für die Kunstausstellungen, die drei Jahre später begannen als die Aufführungen, stand nur der klobige Bunker am Bahnhof zur Verfügung. Ein Festspielhaus auf grünem Hügel wurde gebaut, der Bunker blieb bis heute die Kulisse der Ausstellungen.

Zu jeder Festspielzeit füllte sich das zu „Städtischen Kunsthalle Recklinghausen“ aufgestiegene, im Innern mit Geschick umfunktionierte Gebäude mit Kunstwerken von höchstem Rang, nun schon 25 Jahre lang und immer unter gleicher Regie. Von Anfang an bis heute lag die Gestaltung der Ausstellungen in den Händen von Thomas Grochowiak, dem Dr. Anneliese Schröder zur unentbehrlichen Helferin wurde. „Jubiläen“ zu feiern ist nicht Recklinghäuser Art, aber ein Rückblick auf das Geleistete erscheint geboten.

Unter den Journalisten, die zur Eröffnung der diesjährigen Ausstellung mit dem Titel „Was war – Was ist“ nach Recklinghausen gekommen waren, gab es einige (ich gehöre zu ihnen), die diese Ausstellungen seit ihrem Beginn im Jahre 1950 teilnehmend beobachtet und kommentiert haben. Wir haben miterlebt, wie die Ausstellungen, die anfangs mehr Ergänzung und Anhang des Theaters waren, allmählich zum gleichwertigen Partner der Aufführungen wurden; wie sich der Rahmen mit jedem Jahr weiter spannte, prominente Freunde und Gönner, auch aus dem Ausland, ihre Ideen beisteuerten; und wie sich auf diese Weise ein ganz bestimmter „Recklinghäuser Stil“ herausbildete.

Zu den „Paten“ des Unternehmens gehört auch Willem Sandberg, der einstige Direktor des Stedelijk-Museums Amsterdam, später Leiter des Museums von Jerusalem, der große alte Mann im internationalen Museumsbereich. Er war zur Eröffnung nach Recklinghausen gekommen und hielt eine Rede, die durch ihren persönlichen Klang die Zuhörer stark anrührte. Er, der nach 1933 aus Deutschland Verbannte, habe lange Zeit gebraucht, den Weg nach Deutschland wiederzufinden. Erst als die Kollegen aus Recklinghausen, unter ihnen der unvergessene Kunstkritiker Albert Schulze Vellinghausen, ihn um seine Mithilfe baten, habe er erneut Kontakt mit den deutschen Kunstfreunden aufgenommen. Recklinghausen sei für ihn „die Brücke zu einem neuen Deutschland“ geworden. Schöneres konnte der gefeierte Gast dem Hausherrn nicht sagen.

Endlich Originale

Worin besteht nun der Recklinghäuser Stil? Zunächst und vor allem im Überspringen der nationalen Schranken. Der erste Ausstellungstitel hieß: „Französische und deutsche Kunst – eine Begegnung“ (1950). Da sahen wir nach langer Zeit – an Auslandsreisen war noch kaum zu denken – endlich wieder Originale von Picasso, Braque, Léger, Chagall, Matisse, denen sich von deutscher Seite Willi Baumeister, Nay, Schmidt-Rottluff, Hofer stellen mußten. „Zeugnisse europäischer Gemeinsamkeit“, nun alle Länder umfassend und bis ins Mittelalter zurückgreifend, war das Leitmotiv der Ausstellung von 1954.

Das Schlüsselwort der Ausstellungen heißt „Konfrontation“. Immer war man auf der Suche nach Nachbarschaften und Partnerschaften, wobei der historische Zettelkasten möglichst beiseite blieb. Die Ausstellungen, angesiedelt mitten im Revier, wenden sich in erster Linie an den unverbildeten und von keinem Vorwissen belasteten Besucher. Ihn gilt es zu erreichen. Augen, die durch die vielen billigen Attrappen unserer Alltagswelt abgestumpft sind, sollen wieder lernen, beim Kostbaren zu verweilen, sollen empfindsam werden für die subtilen Reize des Kunsthandwerks. Eine „Schule des Sehens“ hat man die Ausstellungen genannt.

Nun ist es alte kunstpädagogische Erfahrung, daß es leichter ist, das Auge durch den Vergleich mehrerer und unterschiedlicher Werke zu aktivieren als durch die Fixierung auf das isolierte Bild. Man griff zur Methode „des vergleichenden Sehens“. Dabei scheute man sich nicht, Picasso („Musizierender Faun“) neben Ludwig Richter („Rast der Pilger“) zu hängen, denn in beiden Werken erklingt in hauchzarter Berührung die alte Hirtenmelodie. C. D. Friedrichs „Mann und Frau den Mond betrachtend“ fand sich zusammen mit Paul Klees „Vollmond“. Doch auch den Gegnerschaften und „Polaritäten“ wurde nachgespürt. Dem „Apollinischen“ wurde das „Dionysische“ gegenübergestellt (1961) und damit an ein Urthema der Kunst gerührt. „Beginn und Reife“ (1956), „Schönheit aus der Hand – Schönheit durch die Maschine“ (1958), „Idee und Vollendung“ (1962) waren typische Recklinghäuser Themen.

Prominente Leihgeber

Das Original hatte immer den Vorrang vor der Reproduktion. Freilich war es bei Beginn der Ausstellungen relativ leicht, an die Originale heranzukommen. Dem meisten Museumsgut fehlte noch das Haus, manches Meisterwerk gelangte hier aus dem Keller zum erstenmal wieder an die Öffentlichkeit. Von der Grundidee der Ausstellungen angetan, erklärten sich fast alle großen Sammlungen zur Mithilfe bereit. Der Louvre, die Londoner Tate Gallery, das Kunsthaus Zürich, die großen holländischen Museen finden sich in der Liste der Leihgeber.

Was in Recklinghausen von nah und fern an Altem und Neuem in 25 Jahren zusammenkam, bildet nun, im Rückblick, gewiß ein buntes Durcheinander, aber die grenzenlose Vielfalt erweist doch auch wieder den alten Gedanken der Ars Una: die eine gemeinsame Quelle des Schöpferischen. Malraux’s großer Wunschtraum vom „imaginären Museum“, den er selbst nur an Hand von Reproduktionen für erfüllbar hielt – in Recklinghausen wurde er, wenigstens auf Zeit, verwirklicht. Der griechische Kopf, die Zeichnung von Picasso, der romanische Kruzifixus, die chinesische Flötenspielerin: es ist „als risse ein unterirdischer Strom der Geschichte alle diese zerstreuten Werke zur Einheit mit sich fort“ (Malraux).

Die Ausstellung von 1974 zieht nun stolze Bilanz. Wieder wird Kunst aus drei Jahrtausenden gezeigt, wieder stößt man auf die großen Namen. Diesmal spannt sich der Bogen vom ägyptischen Torso bis zum Fotorealismus der Gegenwart. Man war nach Möglichkeit bemüht, Werke aus früheren Ausstellungen nochmals heranzuholen, was in den meisten Fällen auch gelang. Der wie immer sehr sorgfältig gearbeitete Katalog (14,- DM) ruft die Abfolge der Ausstellungen wieder ins Gedächtnis. Und auch die Ausstellung selbst läßt in der Anordnung die alten Themen noch einmal anklingen. (Aus Raummangel mußten einige Kapitel ins Foyer des Theaters verwiesen werden). Wer die Ausstellungen nicht Jahr für Jahr gesehen hat, wird diese „Hintergründe“ zwar wenig beachten, doch der Fülle des Ganzen kann sich auch diesmal niemand entziehen.

Die 25 Jahre brachten freilich auch Wandlungen. Einige Wertordnungen haben sich verschoben, einige Akzente setzen wir heute anders. Der finanzielle Wert vieler Werke ist in unvorstellbarem Maße gestiegen. Ein kleines Cranach-Bildnis, 1955 mit 60.000 Mark versichert, müßte heute mit fünf Millionen versichert werden. Die gesamte diesjährige Ausstellung hat einen Wert von mehr als 50 Millionen Mark.

Laienschaffen wurde in Recklinghausen stets groß geschrieben. 1971 wurden „Werke der naiven Kunst“ gezeigt. Mancher kleine Rousseau, manche emsige Séraphine wurden im Revier entdeckt. Nun ist man heute ohnehin dabei, die Kluft zwischen dem „Künstler“ und dem „anderen“ zu überwinden. Große Teile der Kunst haben das Museum verlassen, haben Besitz ergriffen von der Straße, der Landschaft, der Fabrik. Hier sieht Grochowiak eine neue Aufgabe für sein Museum.

Künstler sollen, so seine Idee, in die Betriebe gehen und versuchen, aus willigen Werksangehörigen die „kreativen Kräfte“ hervorzulocken. Anfänge sind gemacht, Künstler haben sich zur Verfügung gestellt, die Betriebsleitungen wollen bezahlen. Bei einer gemeinsamen Fahrt wurden der Presse die ersten Resultate gezeigt. Wir besuchten die Zeche Blumenthal bei Recklinghausen, wo Rolf Glasmeier mit einigen Bergleuten das im Betrieb verwendete Material (Zahnräder, Muffen) vom Zweckvollen ins Zweckfreie hinübergeführt hatte. Handwerklich saubere Objekte und Montagen sind dabei entstanden. In der Fleischwarenfabrik Herten erarbeitete Heinrich Brummack mit Betriebsangehörigen eine holzgezimmerte „Festecke“ für Geburtstagsfeier und Umtrunk.

Die geplante Aktion, „Von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz“ genannt, steckt natürlich noch im Stadium des Experiments, dessen Problematik hier im einzelnen nicht erörtert werden kann. Ganz sicher aber hat der nimmermüde Thomas Grochowiak nach dem „Was war – was ist“ im Kopf längst auch ein „Was wird“ parat. (Bis 14. Juli)

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 25. Mai 1974