Anna Klapheck Textforum

Der Sieger

Vor dreißig Jahren / Kriegsende im Erzgebirge

Vielleicht waren es die letzten Schüsse des Krieges überhaupt, die an jenem milden Maiabend 1945 über unsern „Ochsenkopf“ hinwegdröhnten und ihre rauchende Spur sinnlos nach Osten sandten. Von dort her kam die weiße Straße, sie durchschnitt die eben grünenden Felder, die unter so großer Bangigkeit bestellt worden waren. Oft waren wir diese Straße gegangen. Nun war sie menschenleer, in stummer Erwartung.

In den Lichtungen des „Ochsenkopf“ hatten wir im vergangenen Sommer wilde Himbeeren gepflückt und an feuchten Morgen unterm Moos Täublinge und Birkenpilze eingesammelt. Nun sahen wir von der jenseitigen Höhe des Erzgebirges hinüber zu dem vertrauten Berg, der mit den verderbenden Mächten im Bunde schien. Zwischen ihm und uns, in die Talgründe verstreut, lag das Dorf. In ihm nistete die Angst, und doch waren die abendlichen Geräusche die gleichen wie immer: das Zufallen der Stalltüren, das Anschlagen der Hunde, der dünne Schlag der Schulglocke. Auch hier kräuselte sich blasser Rauch in die Luft, vom Herdfeuer, aus den niedrigen Stuben, aus der Geborgenheit.

Hinter uns, scharf abgesetzt gegen den rötlichen Abendhimmel, stand die dunkle Wand der Wälder, die hinüber nach Böhmen reichen. Einsameres Land als dieses gibt es kaum in Deutschland. Mit der einbrechenden Dunkelheit tauchen hier und da, irgendwoher, entwaffnete deutsche Soldaten auf, meist zwei oder drei zusammen, weiße Stoffstreifen am Arm. Sie fragen nach Weg und Richtung und entschwinden lautlos. Mit aufsteigenden Sternen läßt das Brausen vom Berge drüben nach. Die weiße Straße, noch immer leer, leuchtet im Mondlicht.

Am Morgen, der in blauem Glanze anbricht, ist es geschehen. Aus den Häusern wehen die kleinen weißen und roten Fahnen. Auf der weißen Straße wälzt es sich heran. Der Sieger ist da.

Nach allem Furchtbaren, das geschehen ist, kann es kaum anders sein, als daß Auflösung und Übergabe unter allen Zeichen der Entfesselung vor sich gehen. Es kommen Tage ohne Maß. Wir sind dem Sieger preisgegeben, und er ergreift sein erobertes Recht mit kentaurischer Kraft und satanischer Lust. Wir laufen in die Wälder und verstecken uns auf den Heuböden. Wir verbergen die Trauringe im Schuh und die Uhren im Mehlsack. Mütter stecken ihre halbwüchsigen Töchter in Jungenkleidung. Doch der Sieger wittert bald den Betrug.

In den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch stand oft die Frage auf, ob man nicht hätte weggehen sollen, hinüber zu den Siegern der anderen Seite, wo es doch vielleicht Verständigungsmöglichkeiten gab. Und immer wieder die Antwort: der Krieg ist zu Ende, unsere Häuser sind in Asche. Wir waren mit unseren Kindern seit Jahren auf der Flucht, Flucht vor Bomben, Granaten, brennenden Städten, hatten hier eine bescheidene Heimstatt gefunden. Muß man nun auch noch vor Menschen fliehen?

Eines Tages, um die Mittagsstunde, fährt eine Reihe von Bauernwagen den Hang hinauf zu unserem einsamen Haus. Jeder Wagen ist mit zwei Pferden bespannt, auf jedem Gespann sitzen zwei oder drei Soldaten der Roten Armee. Von einem der letzten Wagen springt ein russischer Leutnant ab, klein und sehnig von Gestalt. Ihn begleitet ein Sergeant, groß und breitschultrig. Als Dritter ein Dolmetscher, der die Verhandlung führt. Innerlich darauf gefaßt, das Gutshaus nun verlassen zu müssen, erfahren wir voll Erstaunen, daß sie von uns nichts weiter verlangen als einen langen Tisch, Stühle und für jeden Soldaten Teller und Löffel. Wenig später dampft ein Kessel vor der Scheune. Am Abend dringen schwermütige Volkslieder durch unsere offenen Fenster. Der Sergeant, der zugleich der Koch ist, kommt mit dem halbvollen Kessel spät noch einmal ins Haus. „Für die Kinder“, sagt er auf deutsch.

Am nächsten Morgen holen die Soldaten alle verfügbaren Mähmaschinen aus dem Dorf zusammen, fahren über die weiten Koppeln herauf und herunter, das hohe Gras fällt zusammen. Für den nächsten Tag werden wir Frauen vom Leutnant zur Arbeit bestellt. In Reih und Glied mit den geübteren Frauen des Dorfes müssen wir das Heu schichten, während die Russen als Aufseher auf ungesattelten Pferden die Koppeln entlangjagen. So also ist es, besiegt zu sein. Dann nimmt uns die Arbeit in Anspruch. Nach ungeschicktem Anfang werden die langen Reihen Heu mit der Zeit gerader und besser. Der Himmel wird grau und drohend, wir sind zum Umfallen müde. Aber das Gewitter wird kommen, und unser Heu darf nicht naß werden. Die ersten Tropfen fallen. Wir schaufeln wie besessen und bringen die Arbeit noch eben zu Ende. Beim Heimgang gestehen wir uns, daß wir fröhlich sind. Am Abend holt uns der Leutnant an den langen Tisch in die Scheune.

So wächst langsam eine Verbundenheit heran, die schließlich das ganze Dorf erfaßt. Leutnant Michail ist der Träger dieser sich bildenden Ordnung. Wir erfuhren nie, wie weit sein militärischer Auftrag ging, vermutlich wußte er selbst es nicht genau. Ohne jede Pose, nur dem eignen Gewissen verpflichtet, ging er ans Werk. Auf seinen kurzen festen Reiterbeinen steht er zwischen seinen riesigen Soldaten: dem gutmütigen Iwan, der Koch und Sergeant in einer Person ist, dem schwarzen Fjodor, dem dunkelhäutigen Karimo mit den blinkenden Zähnen, dem blonden Stanislaw aus der Ukraine, der in der Gefangenschaft ein paar Brocken deutsch gelernt hat.

Einfache Menschlichkeit

Leutnant Michail kennt seine Leute Zug um Zug, spart nicht mit Drohung und Strafen. Im Zivilberuf war er, wie wir allmählich erfahren, Lehrer, doch er sprach nur russisch. Seine Mutter sei noch des Schreibens unkundig gewesen. Wo die Sprache als Verständigungsmittel entfällt, gewinnt die Gestalt reine Sichtbarkeit. Leutnant Michail besaß die tiefe und einfache Menschlichkeit, die das russische Volk durch alle Wandlungen nie ganz verloren hat. In ihm lebte Aljoscha Karamasoff, unser aller Bruder.

Der Sommer ist auf der Höhe, die Arbeit auf den Koppeln beendet. Viel gab es inzwischen zu schlichten, denn auch im engsten Kreis geht es um Schicksal. Da sind Leute im Dorf, die von jeher einen kleinen Anteil an den Wiesen haben und sich ihre zwei oder drei Heufuhren alljährlich nach Hause fahren dürfen ?. Nach und nach kommen sie zum Leutnant, der nun der Kommandant für den ganzen Bezirk geworden ist. „Ist der Mann arm?“ fragt er als erstes. „Sehr arm“, lautet die Antwort. Dann soll er viel haben. Noch öfter fragt er: „Ist der Mann gut?“ und erhält meist nur zögernde Antwort.

Schlimm erging es dem rothaarigen Lorenz aus der verwahrlosten Hütte im Oberdorf. Der fing an, sich an entlegener Stelle heimlich sein Heu zu beschaffen. Der Leutnant erfuhr es, bis hinüber ins Haus hörte man sein Fluchen. „Du bist ein Dieb, ich könnte dich erschießen!“ Er packte den Rothaarigen am Kragen und sperrte ihn einen Tag lang im Keller ein. Dann ließ er ihn laufen, wortlos und traurig.

Die Soldaten aus dem fremden Land sind stark und gesund. Mit ihnen gemeinsam auf den Feldern und in den Scheunen arbeiten die Mädchen. Als der Krieg begann, waren sie zwölf und dreizehn, nun sind sie achtzehn und neunzehn. Auch sie sind jung und voll Kraft. Die Abende sind lang und hell, die Stuben liegen eben zur Erde, nirgends um die Häuser ist ein Zaun. Es flüstert und lacht durch die Sommernächte. Der Leutnant sieht dies alles, aber wo es nicht um Bedrohung und Unrecht geht, da ist es nicht seine Sache.

Da ist Magdalene, noch ein halbes Kind. Wie sehr wünscht sie sich, daß der Leutnant sie bemerkt, daß er sieht, wie sich beim Aufladen der schweren Fuder ihr Kleid spannt über der Brust. Ein Briefchen liegt herum. „An Leutnant Michail Simjonowitsch“ steht mit kindlichen Buchstaben auf dem Umschlag. Als der Leutnant ihn öffnet, fallen ein paar Rosenblätter heraus. So geht es ein paar Tage. Magdalene wird immer verwirrter, steckt sich rote Blüten hinter ihr kleines Ohr. Eines Abends kommt Magdalenes Mutter, eine stille Frau, der Mann gefallen. Sie steht lange beim Leutnant, der Dolmetscher wird diesmal nicht herbeigerufen, denn was die zwei sich zu sagen haben, findet auch so seinen Weg vom einen zum anderen. Magdalene arbeitet weiter in der Scheune. Der Leutnant macht vor allen Mädchen Spaß mit ihr. Er springt durchs hohe Scheunentor auf die Erde, als ihr die Heugabel heruntergefallen ist. Nichts weiter. Und die spitzen Worte, die die Mädchen schon bereit hatten, verstummen.

Der Kapitän ist im Auto gekommen, um den Leutnant abzuholen. Eine Dolmetscherin bringt er mit. Das Kommando des Leutnants ist beendet. Die Kinder bewundern die Uniform des großen Kapitäns mit den vier Sowjetsternen auf der Schulter und den Medaillen auf der Brust, aber sie bleiben scheu. Im Dorf spricht es sich herum: Der Leutnant geht fort, und alle fühlen, daß etwas fehlen wird.

Der Kapitän hat ein Zimmer im Gutshaus belegt. Am Abend wird hier der Tisch gedeckt, wir Frauen werden zum Essen geladen. Iwan schmort in der Küche und tut, als kenne er uns nicht. Um zehn wird endlich aufgetragen, Fisch und Fleisch, Wodka und Wein. Das weiße Bett des Kapitäns ist für die Nacht schon vorbereitet. Die Luft ist stickig vom Rauch der Zigaretten.

Der Kapitän fragt, ob eine von uns etwas auf dem Klavier spielen könne, einen Tanz oder ein Lied. Maria spielt einen Walzer von Chopin. Der Kapitän geht unruhig auf und ab durchs Zimmer. Er legt den Uniformrock ab und lehnt sich im weißen Hemd tief in den Sessel zurück. Aus flackernden Augen sieht er uns der Reihe nach an. Das Gespräch ist mühsam, uns ist sehr bang. Wir fragen den Kapitän durch die Dolmetscherin, wo er zu Hause sei. In Kriwoj Rog, wo die schweren Kämpfe waren. Wir sprechen nicht gern vom Krieg und fragen nach etwas anderem. Aber der Kapitän spricht weiter von Kriwoj Rog. Die Sätze werden bedrohlicher, zögernd übersetzt die Dolmetscherin. Seine Frau floh mit dem Kind, er weiß nicht, wo sie sind. Seine Mutter und seine Schwester wurden von den Deutschen auf grausame Art umgebracht. Da wächst es riesengroß auf: das Gespenst der Schuld, des Hasses und der Vergeltung. Ein Block schiebt sich heran und versperrt jeden Weg der Verständigung. „Wir wußten es nicht“, sagt Marie leise.

Der Leutnant ist blaß geworden. Sein schönes Gesicht hat den schmerzlichen Zug, den wir an ihm kennen. Aber es geht eine seltsame Kraft von ihm aus. Mit einem Male wissen wir, daß er uns schützen wird. Der Kapitän, der viel getrunken hat, ist eingeschlafen. Der Leutnant murmelt ein paar russische Worte. Wir sehen die Dolmetscherin an. „Gott wird richten“, hat er gesagt. (Geschrieben 1945).

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Geist und Leben, 10. Mai 1975