Hulda Pankok Textforum
1932

Louise Dumont. Zum Tode der großen Künstlerin

Engel singen:
"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen." Faust II.

Als meine Mutter starb, schrieb mir Louise Dumont: "Wer dem Willen seines eingeborenen Gottes folgt – für den ist der Tod gewiß der erste wirkliche Lebens-Feiertag. – Bleiben wir im Sinn unserer Mütter stark, Geliebtes, auch durch den Weltuntergang hindurch." An diese Worte klammern wir uns nun. Was sterblich an Louise Dumont war, haben wir der Erde wiedergegeben. Ihr Bild ist nun schon festgebannt in die Atmosphäre der Heiligen, und wir fühlen sie doch noch als Same, der in die Erde getan wurde, und es ist wie ein Doppelton hier, wie ein Ineinandergeschlungensein von Fern und Nähe, Dasein und Unsichtbarwerden, ein Ineinanderwachsen von Lebenselementen, das uns erschauern läßt. So ist sie wirklich und unwirklich, schwebend, entschwebend, wunderbar und doch wirklich zugleich. Immer schon spürten wir einen Hauch jener Welt, von der sie die Gewißheit in sich trug, als sie noch über diese Erde ging als die große Schauspielerin und weltberühmte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Zwischen Louise Dumont und denen, die sich ihr ergaben, handelte es sich um eine ewige Beichte, um eine unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Sie selbst ordnete weise und gütig ein, was sich ihr anvertraute. Sie steht nun jenseits aller menschlichen Gefahr, und so darf ich aussagen, wozu mich Liebe und Gewissen drängt: der Ruhm, der ihr zuteil wurde, den fühlte sie nur als Ruhm der Kräfte, die in ihr wirkten. Diesen Kräften gab sie sich bedingungslos hin; aus ihnen holte sie ihre Energien zum Kampf für das Ideal, das vor ihr stand und dem sie unter allen Umständen zum Licht verhelfen wollte. Sie wollte dem Teufel, dem Ungeist, der heute Herrscher unseres Planeten sich dünkt, Boden abgewinnen zum Glücke ihres Volkes, das nicht mehr um die Beseligungen des Geistes weiß, um die man es betrügt. Die Beziehung Luise Dumonts zum deutschen Volk war unmittelbar. Sie fühlte sich als Teilchen dieser Gemeinschaft im Geiste. Die letzten Worte der Sterbenden am Pfingstmontag lauteten: "Möchte doch der Pfingstgeist für unser Volk auf die Erde kommen." Ja, sie hat ein Leben lang um die Seele ihres Volkes gerungen. Beim Theaterspiel ging es ihr auch nie um anderes als um Entscheidungen des Geistes, die auf der Bühne dann das vom äußeren Schein befreite Wesen der Nation beschwören wollten und allezeit, bis in die Todesstunde hinein, in der sie deutlich, aus der Demut ihres ganzen Lebens heraus, "Dein Wille geschehe!" sprach, - trug sie das Schicksal der deutschen Geisteszukunft in ihrem Herzen.

Wenn Louise Dumont Goethe dachte, dann tönte für sie die Stimme des Gottes auf, und sie verkündigte die Freiheit des Geistes. Diese Stimme war stark auch in Louise Dumont. Ihr Geist, der fortgesetzt die größten Probleme trug, der weitgespannt über Grenzen und Normen hi- nausging, der gab dieser Frau die Kraft, alle Gegensätzlichkeiten, auch die der Kirchen, in sich aufzuheben. Sie war zurückgesunken in den Schoß Gottes.

Sie hatte ihr Leben an die Grenzen geführt, wo schon jene großen geistigen Reiche des Himmels und der Hölle beginnen. Wer schon in das ewige Leben hineinwachsen kann hier auf Erden, dem beginnt auch das Leben der Hölle schon hier. Unser Leben ist dann nichts als ein Stück blitzartig durch unser Bewußtsein erhellte Ewigkeit.

"Was ist die Hölle?" fragt Sossima, "ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Raum, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, das zu sagen: ich bin und ich liebe. Nur einmal war ihm ein Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit." Diese Einmaligkeit, Unwandelbarkeit unseres gegebenen Lebens, diese großartige und strenge, vom Menschen alles fordernde Idee der Liebe ist in den Seelen der Menschen unserer Tage wie verlöscht. Louise Dumont aber war es Gewißheit, daß unser ganzes Leben nichts anderes ist als eine Entscheidung zur Ewigkeit, daß wir Menschen von heute alle in einem gewaltigen Drama stehen, das nur durch die Kraft der Liebe, die alle Gegensätzlichkeit in sich auslöscht, von den Völkern überwunden werden kann. Sie wußte, daß diese Liebe nur stark im Geiste werden muß, um dann Form anzunehmen in sichtbarer Wirkung. Darum war ihr Leben ein Dienst am Geiste. Darum vereinigte sie alle Entscheidung auf dieses eine Leben, machte es dadurch reicher, stärker und verantwortungsvoller.

Wie die Natur in unendlicher Fülle in dem Monate ihres Sterbens Form um Form belebt und dann wieder vergehen läßt, so haben auch wir Menschen im Reiche des ewigen Geistes Verschwendung und Überfülle; Seelen um Seelen stehen in Bereitschaft zum Dienst am Geiste, und es braucht nicht mit ihnen gespart zu werden. So nur empfand Louise Dumont sich selbst; sie sparte sich nicht auf. Sie verschwendete sich. Noch in der letzten Zeit ihrer Krankheit wollte sie ihr Spiel im Faust nicht aufgeben und spielte mit Fieber. Vielleicht hat diese künstlerische Besessenheit ihr Ende beschleunigt. Wir können es einfach nicht sofort fassen, wenn ein großer ideenreicher Mensch die Erde verläßt, daß es so sein soll. Denn wir klammern uns an die Form und sehen durch unsere Tränen nicht das Unverlierbare, das uns blieb. Indem wir aber die Einmaligkeit und Verantwortlichkeit des Lebens der Louise Dumont vor Augen führen und auf uns nehmen, erhalten wir Einblick in dieses erhöhte, stärkere, vom Geist durchwehte Leben. Das ist nun schon sichtbare Erfahrung: "An einem Ende der Welt veranlaßt du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallet sie wieder." So, und nicht anders muß es gewesen sein, als der Sarg den Boden berührte.

Was in der lebenden Schönheit geschaffen ist, das ist für immer geschaffen. Die Ewigkeit formt sich zwischen den künstlerischen Händen des Künstlers, der würdig ist und stark genug dazu, an der Quelle der Ewigkeit zu schöpfen. Mit diesem Gedanken umfassen wir Louise Dumonts Persönlichkeit, dieser großen Verkünderin der deutschen Sprache. Sie wollte den Rhythmus der Sprache ihres Volkes von der Bühne aus wieder vernehmbar machen. Sie wollte, daß endlich die Deutschen wieder das Wunder ihrer Sprache empfänden, die sich offenbart im Klang eines Goetheschen Satzes. Hier wird das Wort wieder wichtig in der Schwere seines geistigen Gehaltes. Es ist eindeutig und läßt sich nicht drehen und deuteln. Um diese Wahrheit ging es ihr bei der gesetzmäßigen Ausformung des sprachlichen Rhythmus, der in ihren letzten Regiearbeiten "Tasso" und "Faust II" seine Krönung erhielt. Siebzig Jahre mußte sie werden, bis sie ihre Hauptaufgabe: ihre "Lebensaufgabe", den "Faust II" zur Aufführung bringen konnte. Es zeigt Louise Dumonts ganze Demut vor dem großen Kunstwerk, daß sie es erst herausbrachte, als sie glaubte, dafür gerüstet zu sein. Sie wußte nicht, daß das Testament unseres größten deutschen Dichters auch ihre letzte Arbeit sein sollte. Ihre letzte Arbeit, die noch einmal ganz großes Theater war und die Gewissenhaftigkeit deutlich zeigte, mit der man im Düsseldorfer Schauspielhaus an die Aufführung eines überragenden Kunstwerkes ging. Die Aufführung des "Faust II" war eine einmalige Tat, die den Weg noch einmal wies, den Louise Dumont mit ihrem Theater gern ganz eindeutig in jeder Aufführung gezeigt hätte.

"Warum?" so meinte sie einmal im Gespräch, "nicht reinliche Trennung? Wo echte, wahre Kunst gegeben wird, da sollte man seichte, oberflächliche Luftspiele fortlassen. Dafür sollte das Luftspieltheater dann eintreten," und als sie das sagte, da dachte sie wohl an das von ihr und ihrem Gatten Gustav Lindemann in treuer Kameradschaft siebenundzwanzig Jahre geleitete Düsseldorfer Schauspielhaus, das sie gern zu einem Zeittheater in ihrem Sinne gemacht hätte, wenn nicht finanzielle Abhängigkeiten immer wieder den Weg zum Ziel versperrt hätten.

Bis zum Schluß ihres Lebens hat sie aber die Hoffnung nicht aufgegeben. Endlich winkte Erlösung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit in den letzten Wochen durch Zusammenschluß des Kölner Schauspielhauses mit dem Düsseldorfer. Planmäßige Bewirtschaftung der zusammengelegten Theater sollte das Schauspielhaus Louise Dumonts unabhängig machen und frei für die Geistestaten unserer Zeit, die wert sind, gesehen zu werden. So hatte Louise Dumont zusammen mit ihrem Gatten und den Freunden des Schauspielhauses es beschlossen. "Das deutsche Theater am Rhein" stand als letzte Vision noch vor Louise Dumont. Sie glaubte an das Wunder bis zuletzt, daß es ihr doch noch gelingen würde, jenes Nationaltheater, von dem Schiller schon träumte, Wirklichkeit werden zu lassen. Es zeigt ihre unerbittliche Wahrheit gegen sich (Vgl. Jahrgang 1930 der Zeitschrift "Deutsche Frauen-Kultur", Seite 4/5 und Seite 295/297; ferner Jahrgang 1932, Seite 62/64.) selbst, ihr großes Verantwortungsgefühl, ihre Gewissenhaftigkeit gegen ihre künstlerische Aufgabe, daß sie nie aufhörte nach Vervollkommnung zu streben.

Vielseitig wie eine weite Landschaft, die Tausendfältiges birgt, war diese Frau. Sie schrieb ein Kochbuch, führte ihren Haushalt mustergültig, und neben ihrer großen Arbeit als Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dem sie Weltgeltung verschaffte, kreisten ihre Gedanken dauernd um das der heutigen Menschheit noch verschlossene Geheimnis: "Wie können wir noch einen Weg zur Gemeinschaft finden?" In ihrem ureigensten Beruf als Theaterleiterin sah sie schon den Weg durch das Ensemblespiel.

Dieses war an allen Bühnen, trotz der vielen überragenden Bühnenkünstler heute, immer schlechter geworden. Man hatte überall, nicht nur beim Theater, sondern in allen Lebensauswirkungen die seelische Macht der Gemeinschaft nicht mehr wichtig genug genommen. Sie suchte nach dieser seelischen Gemeinschaft. Und wenn sie wieder einen Menschen gefunden hatte, der ihr würdig erschien, mitaufzubauen an dieser Gemeinschaft, dann strahlten ihre leuchtenden Augen, und aus ihrem Munde kamen Worte, die heute schon symbolisch sind: "Ein Ring fügt sich zum anderen in meiner goldenen Kette."

An ihrem Grabe auf dem Düsseldorfer Friedhofe bekannten die Frauen durch den Mund ihrer Sprecherin:

Was Louise Dumont jeder einzelnen von uns war, ist ihr eigenstes, sie tief beglückendes Geheimnis.
Was sie allen Frauen war, kann nur im Gelöbnis zum Ausdruck kommen:
Wir wollen versuchen, dem Geiste und dem Geistigen zu dienen in der Treue wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, eine Persönlichkeit zu werden, in den uns von unserer Natur gesteckten Grenzen, wie Louise Dumont.
Wir wollen versuchen, ein wahrhaftiges, ins Ewige mündende Leben zu führen wie Louise Dumont.

In: Deutsche Frauen-Kultur, hrsg. vom Verband Deutsche Frauenkultur e.V. 36. Jg., Leipzig 1932, Heft 7. Bestand: Frauen-Kultur-Archiv, Düsseldorf