Hulda Pankok Textforum
1936

Herrgott von Bentheim

Ich erinnere mich, daß man in meiner Kinderzeit im westfälischen Elternhaus „Herrgott von Bentheim“ ausrief, wenn man nicht weiterkonnte und mit irgendetwas in eine Sackgasse geraten war. Eigentlich wirkte der Ausruf immer mehr wie ein Fluch als wie ein Anruf des Himmlischen. Als Kind habe ich nicht gefragt. Ich fühlte nur, daß der Herrgott von Bentheim im Leben der Erwachsenen eine große Rolle spielte. Nun ich erwachsen bin und eine Reise mich nach Bentheim führt, suche ich selbstverständlich nach dem Herrgott. Ich finde ihn, den Herrgott meiner Kindheit, im Schloßgarten unter Kastanienbäumen, die ihre Zweige wie das Dachgewölbe eines Domes über ihn zusammenschlagen. Es ist eine der wenigen noch erhaltenen frühchristlichen Darstellungen des Gekreuzigten, eine in ihrer Einfachheit ganz große Auffassung. Ein Künstler, der uns begeistern und edler und größer macht, muß zuerst selbst ein einfaches und großes Herz besitzen. Darum war es wohl richtig, daß ich auf meine Frage nach dem Künstler als Antwort die Geschichte eines Herzens erhielt.

Die Legende erzählt, daß zur Zeit Mittelkinds der Schloßherr von Bentheim ein tapferer Streiter war auf Seiten der Sachsen gegen die anrückenden Franken, die durch Anlage von festen Stützpunkten und durch Errichtung von Bistümern das Land zwangsweise christianisieren wollten. Unter den christlichen Gefangenen, die der Schloßherr machte, befand sich einer namens Theodor, ein Künstler, der auf Bitten der Tochter des Fürsten von Bentheim in der Burg allerhand Verzierungen anzubringen hatte. Bei diesen künstlerischen Arbeiten lernte das Schloßfräulein den Feind ihres Vaters kennen. Aus ihrer Liebe zur Kunst erwuchs eine tiefe Zuneigung zum Künstler. Sie verhalf ihm zur Flucht. Aber da alle Wege abgesperrt waren, versteckte er sich im Bentheimer Urwald. Die heidnische Opferstätte wurde des Christen Zuflucht, und der Opferstein wurde in des Künstlers Händen zum Stoff für den Herrgott von Bentheim. Aus dem heidnischen Opferstein formte er des Erlösers gütiges Antlitz.

Das ist die Geschichte, die man sich heute noch in der Bentheimer Gegend erzählt. Und man versäumt niemals, nach der Erzählung zu bemerken, daß das Kruzifix tatsächlich im Bentheimer Urwald gefunden und wie man sich das sonst erklären sollte, daß es dorthin gekommen sei.

Niemand wird das aufklären. Doch wer durch den Wald geht, der versteht einen Künstler, der hier in seiner Einsamkeit schaffen mußte. Wie schön und ursprünglich ist heute noch dieser Wald, wie eine große Seele ist er bezaubernd in seiner Mannigfaltigkeit und in seinem lieblichen Schweigen. Wie ehedem hört man nur Laute der Natur: ein Vogelflattern, das Knabbern von Eichhörnchen, das Knacken von Zweigen, über die Rehe und Hirsche leichtfüßig hinwegspringen. Fichten und Buchen, die altersschwach ein wilder Sturm umknickte, liegen bemoost im Weg, überwachsen von zahlreicher Nachkommenschaft, die auf dem Boden ihrer toten Baumahnern herrlich gedeiht. Immer wieder überwächst die Baumjugend die leer gewordenen Stellen, so daß trotz der uralten zusammengewachsenen und verknoteten Heinbuchen der Eindruck einer jungfräulichen Wildnis bleibt. Diese lebendige und doch leidenschaftslose Natur, in der alles nach seinem Gesetz blüht, reift und sich vollendet, ist ein Wirklichkeit gewordenes Gleichnis von der Kraft dessen, der dies alles erschafft und erhält.

Menschen, die in einer ursprünglichen Landschaft wohnen wie die Bentheimer Grafschafter, sind schlicht und einfach. Die Abgeschlossenheit und die dadurch notwendig gewordene Nachbarhilfe hat die Bentheimer Landbewohner zu einer tatkräftigen Nächstenliebe erzogen. Nachbartreue in Freud und Leid ist im Lande Wittekinds und des Herrgotts von Bentheim keine vergangene Sitte. Sie wird in Ehren gehalten wie die schwarze und weißumrandete pompöse Ohrenmütze mit wippender Straußenfeder, die Großmutter trägt, wenn sie am Sonntag den Herrgott besuchen geht.

In: Mittag, 05.11.1936