Nobelpreisträgerinnen für Literatur
1909 - 1945

Grazia Deledda – Eine Nobelpreisträgerin unter Analphabeten

Kindheit und frühe Prägung

Grazia Deledda wurde am 27. September 1871 in Nuoro auf Sardinien in eine wohlhabende Familie geboren. Ihr Vater war ein angesehener Händler mit Anwaltsdiplom. Ihre Mutter war Analphabetin, wie zu dieser Zeit fast alle Frauen auf Sardinien. Im Gegensatz zu ihr begann sie jedoch schon früh ihre ersten Schreibversuche, hatte sie das Schreiben von ihrem Onkel noch vor der Einschulung gelernt. Mehr als die Grundschule war ihr nicht vergönnt, jedoch kam sie durch ihren ältesten Bruder zu Italienisch-Unterricht bei einem Gymnasialprofessor. Sprachlich entfernte sie sich so von dem Dialekt, mit dem sie aufgewachsen war, inhaltlich sollte sie in ihren Büchern aber bei der Natur und den Menschen ihrer Heimat bleiben, die sie in ihrer Kindheit und Jugend umgaben.

Mutige Schritte zur Schriftstellerinnen-Karriere

Grazia Deledda ging einen sehr mutigen und direkten Weg um ihr schriftstellerisches Können an die Öffentlichkeit zu tragen. 1888 schickte sie im Alter von 13 Jahren eine ihrer Geschichten zusammen mit ihrem Lebenslauf an die Modezeitschrift L’ultima moda, in der es dann zu einer ersten Veröffentlichung kam. Aufgefordert weitere Erzählungen einzuschicken, schrieb Deledda ihren erster Roman Stella d’Oriente 1890 unter dem Pseudonym Ilia die Saint-Ismael. Grazia Deleddas Familie und das gesamte Dorf waren gegen ihr Schreiben, denn es wurde befürchtet, dass sie als schreibende Frau kein Mann heiraten wolle und sie ihre Familie in Verruf bringe. Dennoch erscheint ihr erster Roman als Feuilletonroman in der Zeitung L’Avvenire di Sardegna. Im selben Jahr wird auch ihr erster Roman Nell’azzurro in Mailand in Buchform veröffentlicht. Von da an war ihre schriftstellerische Karriere besiegelt und die nächsten arbeitsreichen Jahre waren geprägt von Veröffentlichungen ihrer Novellen – oftmals Liebesgeschichten - als Fortsetzungen in verschiedenen Zeitungen.

Sardisches Lokalkolorit und Landschaftsbeschreibungen als Kennzeichen

Inhaltlich blieb sie in ihren Werken vorwiegend dem Sardisch-Regionalen verbunden, die dargestellten Charaktere sind Mägde und Bauern, Heldinnen und Helden, die trotz ihrer Einfachheit nicht plump erscheinen. Deleddas Stärke lag jedoch nicht in der Ausgestaltung der Charaktere ihrer Geschichten, sondern in ihren Landschaftsbeschreibungen, die sich durch Prägnanz, Lokalkolorit und Atmosphäre auszeichnen. 1895 erschien einer ihrer bekanntesten Romane Anime oneste. (dt. Ehrliche Seelen, 1911)

Erster internationaler Erfolg

Ihren ersten großen internationalen Erfolg feierte sie 1903 mit Elias Portolú, einem Roman, der in viele europäische Sprachen übersetzt wurde und in Deutschland 1905 unter dem Titel Die Maske des Priesters erschien.

Ihre Meinung zu Frau und Erwerbstätigkeit

1908 nahm Grazia Deledda am ersten italienischen Frauenkongress teil, der von der Pädagogin Maria Montessori organisiert wurde. Die Autorin war jedoch nicht frauenpolitisch engagiert, ihre Erzählungen lassen aber durchaus eine kritische Haltung im Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Frau erkennen. In Cosima, ihrer Autobiographie, die erst nach ihrem Tod in ihrer Schreibtischschublade entdeckt und 1937 veröffentlicht wurde, schildert Deledda, dass sie mit der angestrebten Selbständigkeit durch ihr Schreiben und vor allem mit der daran geknüpften finanziellen Unabhängigkeit, Sorgen in ihrer Familie bezüglich ihrer Chancen auf dem Heiratsmarkt wachrief. Ihre Protagonistin Cosima, ihr alter ego, identifiziert sich mit männlichen Rollen, die sie ihre Weiblichkeit einbüßen lassen, so dass wirtschaftliche wie ideelle Unabhängigkeit immer im männlichen Bereich bleiben. Unabhängige Frauen sind in Deleddas Werken und in ihrer Zeit soziale Außenseiter. Sie schildert die Schwierigkeiten von Frauen, die neue Wege gehen und unabhängig von Ehemännern oder Familien leben, ihre Weiblichkeit zu behalten und sich gegenüber den Anfeindungen der Gesellschaft zu wehren.

Späte Jahre

1927 wurde sie über ihre Meinung zum Faschismus Mussolinis befragt und distanzierte sich nicht von diesem, sondern sagte, sie liebe und verstehe den Faschismus, wenngleich sie der Partei nicht angehöre. Aus ihren Äußerungen geht hervor, dass sie unter dem Faschismus 1927 den Kampf um ein gesundes Familienleben und Liebe zur Heimat versteht. Später äußerte sie sich nicht mehr zum Faschismus, weswegen fraglich ist, ob sie diesen auch noch Anfang der 30er Jahre ideologisch unterstützte. Diese missverständlichen Aussagen haben zu einer Festlegung ihres Gesamtwerkes geführt, welche diesem nicht gerecht wird.
Nach der Nobelpreisverleihung stellte man bei ihr Krebs fest, doch schrieb sie unter dem Eindruck ihrer Krankheit weiter. La Chiesa della Solitudine ist die Geschichte einer krebskranken Frau, ein weiterer autobiographischer Roman, der wie Cosima erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Grazia Deledda starb am 15. August 1936 in Rom.

Nobelpreis

1913 stand die Autorin zum 1. Mal auf der Vorschlagsliste für den Nobelpreis für Literatur. Es war ein schwieriger Weg bis zur Zuerkennung des Nobelpreises für das Jahr 1926, als sie 55 Jahre alt war. In der Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises würdigt Henrik Schück, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, die Autorin hinsichtlich der literarischen Erschließung Sardiniens für die Literatur Italiens und ordnet Deledda ganz in den „Regionalismus“ ein. Diesen erweitere sie um die Darstellung von sardischer Landschaft und Volksbräuchen. Er führt viele ihrer Romane als Beleg für die besondere Qualität ihres Schreibens auf. Schück sah sich aber nicht in der Lage, eine eigene Charakterisierung „ihres künstlerischen Stils“ zu formulieren und gab sehr ausführlich das Urteil eines ungenannten italienischen Kritikers wieder. Dieser führt dazu aus: „‘Ihr Stil‘ ist derjenige großer Erzähler. Er trägt jene charakteristischen Züge, die sich bei allen großen Romanciers finden. Heute gibt es in Italien niemand, dessen Sprache in Kraft, künstlerischer Intensität, Struktur und Bedeutung mit der von Grazia Deledda, besonders in ihren letzten Werken La Madre (1920) und Il Segreto Solitario zu vergleichen wäre.“(1)

In der Würdigung der Akademie heißt es abschließend, dass ihr der Preis zuerkannt werde „für ihre von hohem Idealismus getragene schriftstellerische Kraft, mit der sie das Leben, wie es sich auf der Insel ihrer Väter abspielt, in plastischer Anschaulichkeit nachbildet und allgemeine menschliche Probleme mit tiefem und warmem Anteil behandelt“. (2)

Im Urteil der Kritik

Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Romane von Grazia Deledda sehr unterschiedlich je nach ästhetischer Orientierung in der italienischen Literaturkritik bewertet. So wurde die Konzentration auf bestimmte Themen, eine Einfachheit der Darstellung, ein oft nicht überzeugender Handlungsverlauf oder das Fehlen eines Hauptwerks kritisiert, ebenso eine Überbetonung der Prägung durch Vererbung und soziales Umfeld. In den Gegenpositionen wurde die Gradlinigkeit in der Darstellung der Figuren positiv hervorgehoben, ein Nuancenreichtum in der Beschreibung von Landschaft und Atmosphäre, das Nebeneinander von mehreren Haupt-Werken. Die Rezeption durch das europäische Ausland, speziell durch Deutschland, war insgesamt wesentlich positiver als in Italien selbst. (3) In der Nachkriegszeit wurde ihre Haltung zum Faschismus Mussolinis kritisch hinterfragt. 1927 hatte sie gesagt, sie liebe und verstehe den Faschismus, wenngleich sie der Partei nicht angehöre. Aus ihren Äußerungen geht hervor, dass sie unter dem Faschismus 1927 den Kampf um ein ‚gesundes‘ Familienleben und die ‚Liebe zur Heimat‘ verstand. Später äußerte sie sich nicht mehr zur faschistischen Bewegung. In ihrem Romanwerk kann keine Nähe zum Faschismus identifiziert werden.“









(1) Aus der Verleihungsrede, gehalten von Dr. Henrik Schück bei der Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Grazia Deledda am 10. Dezember 1927, abgedruckt in: Grazia Deledda: Schilf im Wind. Nobelpreis für Literatur 1926 Italien. Zürich: Coron-Verlag o. J., S. 20; die zitierte italienische Kritik reicht bis Seite 22.
(2) Ebd. S. 23.
(3) Eine sehr umfangreiche und differenzierte Analyse der italienischen und deutschen Rezeption liefert Monika Redlin in ihrer Dissertation „Die Literarische Übersetzung zwischen Theorie und Praxis. Die Werke Grazia Deleddas im deutschen Sprachraum“. Frankfurt am Main u. ö.: Peter Lang 2005.



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