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2. 2 Sport in der Literatur

2. 2. 1 Habitualisierte Erzählformen: Geschichten über Sport

Bevor wir uns dem Sport in der Literatur zuwenden, sprechen wir zunächst von den Geschichten über Sport[26] (Gebauer). Sie sind das Ergebnis der Verschmelzung von realen (oder fiktiven) Sportereignissen mit den Ansichten, Zielen, Vorstellungen des Verfassers:

„Die Sportereignisse treten in unsere Wahrnehmung nicht als uninterpretierte Daten, als facta bruta, ein, sondern wir nehmen immer schon interpretierte Ereignisse wahr. Die Ereignisinterpretation kommt wesentlich unter Mitwirkung der Sprache zustande.“[27]

Das betrifft natürlich zuerst die mediale Verarbeitung von Sport, doch auch der Autor literarischer Geschichten über Sport schildert nicht etwa „fiktive facta bruta“ (den Widerspruch in sich haben wir bewusst in Kauf genommen). Seine Darstellung des Sports muss natürlich einen die Geschichte unterstützenden Sinn verfolgen. Gestaltet wird diese Geschichte immer mit habitualisierten Erzählformen. Dazu zählen notwendige Grundlagen, die sowohl bei Autor und Leser vorhanden sein müssen. Es sind:

„[…] ein spezifisches Lexikon (Wörter, die für diese Art von Beschreibung notwendig, d. i. unersetzbar sind), eine Darstellungsweise (die der Erzählung eine Struktur gibt — z. B. auf Individuen zentriert, auf Ereignisse orientiert), eine Wirkung auf den Hörer/Leser/Seher (z. B. Spannung, Freude, Trost, Verachtung) und eine Beziehung zu den dargestellten Ereignissen (z. B. Identifikationswunsch, Angezogensein, Enttäuschung). Die vier Gemeinsamkeiten: Lexikon, Darstellungsweise, Wirkung [auf den Rezipienten] und Beziehung zu den dargestellten Ereignissen gehören nicht den Ereignissen selbst an. Sie sind vielmehr Eigenschaften der Geschichten, der sprachlichen Darstellung also. Sie sind in die Sprache über den Sport eingelassen.“[28]

Ihre Bedeutung auf medialer oder literarischer Basis erkennt Gebauer entsprechend seiner Sport- und Kulturauffassung als wesentlich:

„Wenn man den Sinn, den die Geschichten des Sports erzeugen, unter funktionalem Aspekt betrachtet, erkennt man, daß sie eine bedeutende Funktion erfüllen. Sie entfalten eine dargestellte Welt, in der Ereignisse geschehen, Personen agieren, Handlungsresultate entstehen, die in unserer Gesellschaft zentralen Rang haben.“[29] 

2. 2. 2 Sinnvermittelnde Literarisierung von Sport

Für sich genommen haben Sport und Literatur erst einmal ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Probleme tauchen also dann auf, wenn Sport und Literatur miteinander verschmelzen. Dann überschneidet sich Körperliches und Geistiges auf höchst komplexe Weise. Doch die darin befindliche Dichotomie von Körper und Geist kann überbrückt werden.

„Wir sind daher gezwungen, geschichtliche Prägnanzformen menschlicher Selbstinszenierung auszubilden, welche die leidige, immer unbefriedigende, aber sprachlich-sozial in irgendwelchen Formen immer wirksame Differenz der res corporales und der res incorporales regeln.“[30]

Zu solchen Prägnanzformen zählt Pfeiffer all die historischen Organisationen der Sinnlichkeit: Leibesübung, Wettkampf, Spiel und Sport. „Zu ihnen rechnen aber auch die Schattenrisse solcher Formen in der Literatur.“[31]  Einfach ausgedrückt: Die Geschichten über den Sport heben die Körper-Geist-Dichotomie auf, indem sie das Sportliche mit dem Kognitiven verbinden. Sport sinnvermittelnd zu literarisieren ist laut Mario Leis überhaupt erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert möglich. Das belegen auch unsere Ausführungen in den Unterpunkten zu 2. 1. Die „Schattenrisse“ der Sinnlichkeit, die in unterschiedlichen literarischen Gattungen auftreten können, implizieren zwangsläufig kulturelle und gesellschaftliche Sinnangebote, die Aufschluss über die Funktionen der hier zu analysierenden  Primärtexte geben werden. Die Geschichten, und in diesem Zusammenhang auch Sportliteratur, „sind heute damit befaßt, das Vakuum, das die Kunst zurückgelassen hat, auszufüllen.“[32] 

2. 2. 3 Strukturelles über Sportromane

Sport und Literatur sind, wie schon erwähnt, in gewisser Weise Spiele. Um Spiele ausüben zu können, sind adäquate Techniken unabdingbar. Gebauer bezeichnet den Sport als ein Spiel mit den Techniken des Körpers. „In diesem Sinne bildet […] die Sportliteratur ein Spiel mit den Techniken der Darstellung.“[33] Wie schon in der Sportberichterstattung greift der Autor literarischer Texte ebenfalls auf habitualisierte Erzählformen zurück.  Die Sportliteratur

„wendet sich nicht den Ereignissen des Sports selbst zu, sondern verwendet spielerisch die vorhandene Masse der Sportdarstellungen. Die Literatur über Sport ist also durch eine komplexe Textkonstruktion gekennzeichnet: Sie bildet Texte über Texte. Ihr konstitutives Merkmal ist die Intertextualität; sie ist ein Spiel mit einem anderen Spiel. Die Literatur entfaltet Texte und Spiele im Vergleich zu den sportlichen Ereignissen auf höherer Ebene […].“[34]

Doch die habitualisierten Erzählformen sind nur eine Möglichkeit der Darstellung im Sportroman. Sie sind wohl in allen Bereichen der Unterhaltungsliteratur zu finden. Gebauer zählt zu ihnen Varianten von Legenden und Mythen. In diesem Zusammenhang werden wir später noch positive Utopien, mit denen sich Nanda Fischer in einem Aufsatz beschäftigt hat, und Imageproblematiken (Prof. Peter Tepe) zu diskutieren haben.

Die Geschichten haben allerdings den Nachteil, dass man in gewisser Weise der Meinung ist, das Ende voraussagen zu können. Ihre Erzählformen sind dem Leser (durch Gespräche, Zeitungsberichte, Reportagen, Bücher, Filme etc.) in Fleisch und Blut übergegangen. Im Normalfall müssen sie nicht mehr interpretiert werden. Interessant wird es laut Gebauer dann, wenn der Text als „,Sprachlicher Unfall’ (Austin)“[35] daherkommt. Den sprachlichen Unfall bezeichnet Gebauer als literarische Gegen-Geschichte. Sie kollidiert mit den uns zur Verfügung stehenden habitualisierten Erzählformen und erweckt dadurch unserer Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist Rilkes „Die Turnstunde“. Hier wird der Sinn der Institution Schule bzw. des Schulsports ad absurdum geführt. Normalerweise führen gute Leistungen eines Schülers zu Anerkennung und einer Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Rilke verkehrt diesen Ablauf in das Gegenteil: Der schlechteste Schüler klettert plötzlich und unaufgefordert an einer Turnstange ganz nach oben. Dies ist ihm vorher noch nie gelungen. Er rutscht die Stange wieder herab, setzt sich auf seinen Platz und stirbt. Die Leistung des Schülers bricht alle Regeln der Institution Schule. Sein Tod stellt den Zweck des Unterrichts in Frage.

„Die unbegreifliche Leistung und der Tod stellen als Subversion und Anarchie die größte Bedrohung des disziplinär betriebenen Sports dar. Die hohe Leistung macht keinen Sinn mehr, der sich im Sterben entziehende Körper kann von den Disziplinarinstrumenten nicht mehr erreicht werden.“ [36]

Gebauer wirft den Geschichten über Sport im Vergleich zu den Gegen-Geschichten vor, dass sie die Gesellschaft oder den Sport nicht mehr hinterfragen. „Die Geschichten haben dabei ihre Kraft eingebüßt; das Leben ist aus ihnen geschwunden.“[37] Gleichwohl aber sind diese Geschichten in der Literatur noch existent. Und Interesse beim Leser erwecken sie — so denken wir — aufgrund anderer Eigenschaften: Sie sind bisweilen lustig, spannend, erziehend (gerade in der Jugendliteratur), sind flott erzählt, weisen Wiedererkennungswert auf. Die Gegen-Geschichten hingegen sind in der Lage einen neuen Umgang mit der Welt zu ermöglichen und sogar eigene Welten zu erzeugen. „Die Faszination der Sportliteratur beruht auf ihrer Freiheit des Interpretierens gegenüber dem Sport. Darin beschlossen liegt die Möglichkeit, über die Veränderung artistischer Formen auch die Lebensformen zu verändern.“[38] Die Literatur hat die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Freiräume jenseits der Wirklichkeit zu lenken, die die Athleten durch ihre Leistungen erschaffen.

Ergänzend sei erwähnt, dass Gegen-Geschichten auch durchaus Elemente von konventionellen Geschichten enthalten können. In Dietmar Sous’ „Abschied vom Mittelstürmer“ treffen beide Formen aufeinander: Ich-Erzähler „Hein Schnitzler ist der Schütze des verrücktesten Tores[39] aller Zeiten. Im Mai 1945 schießt er das einzige Tor im Spiel zwischen Germania Endsieg und KdF Paris und beendet damit als letzter Deutscher den Zweiten Weltkrieg.“[40] Ein einschneidendes Erlebnis für den jungen Soldaten, dessen Leben fortan vom Fußball bestimmt wird. Als er Keith, den Enkel seines verstorbenen Freundes Ulli bei sich aufnimmt, erhält sein Leben eine entscheidende Wendung. „Aus dir mache ich einen Fußballer, verlaß dich drauf, Kies[41]. Einen Mittelstürmer, hörst du! Entschlossen drückt Hein Keith’ Hand noch fester.“[42] Doch schon früh merkt Hein, dass dies nicht einfach wird. Hein selbst hat es nie geschafft. Er war nur ein mittelmäßiger Stürmer, ist nun Präsident des unterklassigen FC 69 Lichtenstein und Inhaber der Vereinskneipe. Er schwelgt in Erinnerungen, trinkt und fühlt sich zu Höherem berufen. Eine Karriere, die so oder so ähnlich jedem schon mal untergekommen ist. Die Gegen-Geschichte (im Sinne Gebauers), entwickelt Sous anhand von Keith: Schon in Jugendtagen zeigt er kein Interesse am Fußball, was immer wieder zu Schwierigkeiten mit dem Erzieher führt. Schließlich trennen sich die Wege der beiden. Nur um Hein einen Gefallen zu erweisen, nimmt er noch einmal an einem Spiel des FC teil. Das ist allerdings verkauft. Es soll ein knapper Sieg für die Gäste herausspringen, doch Keith erzielt ungewollt den 2:2-Endstand. Chaos bricht aus. Der sportliche Erfolg zählt nichts mehr, da die vom Gegner versprochene Mannschaftsreise nach Mallorca nun ausfällt. Von elf Freunden kann man nicht mehr sprechen.

„Die glatte Oberfläche der Geschichten über den Sport wird zerspalten, das Textmaterial rissig gemacht; die dunklen Seiten, das Abstoßende, das Nein-Sagen, das geheimnisvoll Anziehende, die Unreinheit des Sports wird ans Licht gezogen, ohne daß aber die Liebe zu ihm verraten wird, denn seine paradoxe Grundstruktur erkennt man nur, wenn man die Zuneigung seiner Bewunderer teilt.“[43] 

2. 2. 4 Sport als Parabel

Wie Gebauer sehen auch Gerhard Krug und Karl Ludwig Pfeiffer den Sport im Roman als funktionalisiert. „Der Sport scheint die Chance zu bieten, die zunehmend belastende Vieldeutigkeit des menschlichen Handelns und seiner Wertungen bis zur faszinierenden Eindeutigkeit zu bringen.“[44] Im Roman kommt ihm eine vergleichende und deutende Funktion zu:

„Sport genügt sich selbst nicht, er wird als Schablone angesetzt, dient als Parabel. Und deutlicher als diese Symbolik kann keine sein, der Sport liefert klare Bilder, überschaubare Zusammenhänge, meßbare Verhältnisse.“[45]

Der Sport, in seiner Funktion als Parabel, hat also die Aufgabe, die Chancen und das Potential von Individuum oder Gesellschaft zu beschreiben. Parabeln in den Geschichten und Gegen-Geschichten „deuten Ereignisse, die in unserem Alltagsleben ständig vorkommen, aus denen das Alltagsleben wesentlich besteht.“[46] 

Der Sport kann laut Krug also den Rahmen für die Entspinnung einer literarischen Geschichte liefern[47]. Denn es ist der Vorteil des Sports, der durch seine klaren Ergebnisse und Ziele der Literatur die Möglichkeit gibt, auf einer anderen, übergeordneten Ebene damit eine neue Bedeutung zu entwickeln. Im Roman wird die sportliche Laufbahn eines Protagonisten nicht autonom geschildert oder nachvollzogen. Wir denken, dass sie immer im Zusammenhang mit anderen lebensbestimmenden Motiven (Liebe, Introvertiertheit, Jugend/Alter, Individuum/Gesellschaft — die Liste ließe sich wahrscheinlich seitenlang fortführen) zu sehen ist. In dieser übergeordneten Bedeutung, die stets als Gegen-Geschichte daherkommt, sieht Krug Potential für Kritik: Ihr Nachteil ist es, dass sie mit der Realität nichts gemein hat. Und dadurch wirke der Sportroman unglaubwürdig. Etwas genauer: Krug bezweifelt, dass ein Läufer, der stürzt oder sich verläuft, und daher das Rennen verliert, sich trotzdem noch als Sieger fühlen kann. So geschehen in: Siegfried Lenz’ „Brot und Spiele“ sowie Hugh Atkinsons „Die Spiele“.[48] Wer sich im Training quält und schindet, um für diesen einen wichtigen Wettkampf in Höchstform zu sein, der will in jedem Fall gewinnen.

„Per aspera ad astra — durch die Qual zur Erkenntnis. Sollte Erleuchtung, Läuterung nur ein Problem von Kilometern sein? Sicher nicht, selbst wenn Langstreckenläufer immer wieder davon sprechen, daß sie beim Training und sogar während des Wettkampfes die tiefsten, seltsamsten, aber auch wirrsten Gedanken haben.“[49]

Objektiv mag man Krug Glauben schenken. Sicherlich wäre ein solches Verhalten in der Realität eine Ausnahme und würde wohl jeden verwundern. Der Roman hingegen kann unserer Meinung nach diese Ausnahme problemlos zu seinem Thema machen, ohne dabei unglaubwürdig zu wirken. Streng genommen ist es sogar die Aufgabe des Sports im Roman, wenn man ihn mit den Augen Gebauers sieht, neue Denkweisen aufzuzeigen. Wichtiger scheint uns da die sprachliche Darstellung. Und auch Krug erkennt: „Nicht die Ereignisse, die Sprache entscheidet über Glaubwürdigkeit, Authentizität.“ (Zu diesem Bereich gestatten wir uns im weiteren Verlauf noch einen kleinen Exkurs.)

Kommen wir noch mal auf den Sport als Parabel zurück. Krug bezeichnet ihn als Transportvehikel für eine weitere Bedeutung. Das ist zunächst wertfrei zu verstehen. Doch wird dem Sport in der Realität seine Parabelfunktion immer wieder negativ ausgelegt: „Hochleistungssport spiegelt, so meinen seine Kritiker, in symbolisch-konzentrierter Form, die Grundprinzipien der industriellen Gesellschaft, anstatt von diesen zu entlasten […].“[50] Bezogen auf seine Literaturfähigkeit sieht Pfeiffer die Lage noch düsterer. So können im sportlichen Roman alle möglichen Ziele transportiert werden. Auch das ist wertfrei gemeint. Und es ist natürlich keine neue Erkenntnis, dass beispielsweise auch politische Ziele im Roman vom Autor verarbeitet werden, um das System — von dem er überzeugt ist — zu stützen. Das wird in den Komplexen Nationalsozialismus und DDR noch genauer zu thematisieren sein. Wir sind aber generell der Ansicht, dass die weitere Bedeutung, die durch den Sport in der Literatur erzeugt wird, keineswegs negativ besetzt sein muss. Sie ist vielmehr immer mit der vorherrschenden gesellschaftlichen Situation in Zusammenhang zu sehen. 

2. 2. 5 Utopien im Sportroman

Ein literarisches Konzept des Sportromans sieht Nanda Fischer im Entwurf der Zukunft:

„Nun scheint der Entwurf auf Zukunft hinaus außerhalb der Literatur im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts einerseits als immer notwendiger, andererseits aber auch als immer schwieriger angesehen zu werden, weil unsere Kultur in vielen Bereichen — auch im Sport — an die Grenzen gestoßen ist, hinter denen es nicht mehr Zukunft im Sinne von Entwicklung zu geben scheint, obwohl alles auf Entwicklung drängt. […].“[51]

Die Leistungsfähigkeit der Athleten scheint nahezu ausgereizt. Doch neue Rekorde sind wichtig, um den Sport für das Publikum interessant zu halten. Auch wenn der Mensch nicht mehr in der Lage ist, aus eigener Kraft eine Leistungsverbesserung zu erzielen, sorgen neues Material und Technik für neue Bestmarken. Ein Rückblick auf die Winterolympiade 2002 in Salt Lake City soll hier stellvertretend für diese Entwicklung stehen: Es war das „schnelle Eis“ des Utah Olympic Oval, das dafür sorgte, dass die Rekorde der Eisschnellläufer nur so purzelten. In zehn Disziplinen wurden acht neue Weltrekorde gelaufen. „,Das Olympic Oval ist die schnellste Eisschnelllauf-Bahn der Welt. […]’, unterstrich Vize-Weltmeister Casey Fitzrandolph aus den USA“[52] die Leistung der Eismeister (Präparatoren der Bahn). Zeitverbesserungen von bis zu 5,5 Sekunden[53] wurden auf die Beschaffenheit des Eises, die Höhenlage und die trockene Luft in der Halle zurückgeführt. Da scheint es wenig Platz für rosige Zukunftsaussichten zu geben. Daher erkennt Nanda Fischer eine weitere Strömung in der Sportliteratur:

„[Heute] scheint eben das Vertrauen in eine gute Zukunft weitgehend dahin. Infolgedessen wird das utopische Potential oft verbraucht in der bloßen Verarbeitung von Angst. […] Aber gerade um des möglichen Glücks willen muß die utopische Intention das mögliche Unheil anvisieren.“[54]

Es sind Geschichten über Sport oder Gegen-Geschichten, die einen erdachten, erhofften oder befürchteten Gesellschaftszustand schildern. „Im sozialutopischen Entwurf erscheint Sport als gesellschaftliches System […], dessen Entwicklung im literarischen Werk antizipiert wird.“[55] Er zeigt, was die Zukunft bringen wird. Das Augenmerk liegt dabei auf der Entfaltung des Menschen bzw. Sportlers innerhalb eines sich verändernden Systems. Als Individuum ist er Teil dieses Systems, Teil dieser Gesellschaft. Sie stellt Regeln auf, denen er folgen kann. „Wird diese Vergesellschaftung im Bereich des Sports als positiv besetzt entworfen, […], dann kann das Bild der Sportgemeinschaft entstehen, die dem Sportler erst eigentlich Identität verschafft […]“[56], ihm ein Zuhause gibt.

Im kulturpessimistischen Utopieentwurf hingegen

„scheint [die Eigendynamik des Sportsystems] die Identität des Sportlers zu zerstören oder deren Entwicklung zu verhindern. Das Sportsystem wird als Wiederholung der alten Systemzwänge lediglich unter dem Schein der Befreiung gesehen, wobei durch die Dominanz des Physischen eine Verstärkung der Gewalt oft unmittelbar sichtbar wird.“[57]

„Der sozialutopische Zukunftsentwurf, sofern er den Sport einbezieht, liegt in einer Linie mit fast allen sozialutopischen Entwürfen der Gegenwart. Er ist lediglich als negative Utopie möglich.“[58] Ein Beispiel für die filmische Verarbeitung einer negativen Betrachtung von Sport und Gesellschaft ist die amerikanische Produktion „Rollerball“: Im Jahr 2018 scheint die Welt in neuer Ordnung. Kriege gehören der Vergangenheit an, und die Macht liegt nicht mehr in Händen unberechenbarer Politiker, sondern in denen eines Kartells großer Industriekapitäne. Um das Volk ruhig zu halten, hier zeigt sich die Allegorie zum Arbeitersport des 19. Jahrhunderts, wurde Rollerball erfunden: Eine rüde Mischung aus Hockey, Football und Rollschuhrennen, bei dem zwei Mannschaften in einer velodrom-ähnlichen Arena einer Metallkugel nachjagen. Champion Jonathan E. ist den Wirtschaftsbossen zu populär geworden und soll daher abtreten. Denn das Spiel soll im Sinne der Herrschenden die Austauschbarkeit des Individuums demonstrieren. Doch das Spiel ist sein Leben und er weigert sich. Die Wirtschaft reagiert mit einer Verschärfung der Regeln, das Spiel wird tödlich. Der Protagonist überlebt zwar auch das letzte blutige Match, hat sich aber damit den Regeln jener Funktionäre unterworfen, die er so sehr verachtet.

Die Zukunftsvision in „Rollerball“ treibt bestehende Verhältnisse vermutend auf die Spitze: Geld und wirtschaftliche Macht haben die Politik längst abgelöst, was in dieser Utopie zu der Annahme führt, dass sie im Jahr 2018 auch den Sport noch deutlicher beherrschen. Die Ängste und Befürchtungen, die das schaurige Szenario in Bezug auf eine den Sport korrumpierende wirtschaftliche Macht schildert, sind nicht unbegründet: Halbzeiten sind in der Vergangenheit im American Football und im Basketball nochmals halbiert worden, um weitere Werbeblöcke unterbringen zu können. Über das Finale der Fußballweltmeisterschaft 1998 vermutet man, dass Ronaldo, der physisch (Knieprobleme) und psychisch angeschlagene Star der brasilianischen Equipe, für das Finale gegen Frankreich auf Druck seiner Sponsoren (Nike) fit gespritzt werden musste.[59]   

Protagonist Jonathan E. bekommt die Macht der Wirtschaft noch deutlicher zu spüren. Wer als Sportler der Zukunft um sein Leben kämpfen muss, ist eigentlich nicht mehr als der Gladiator der römischen Zeit.[60] Die Regeln, mit denen Jonathan zu kämpfen hat, macht nicht mehr der Sport, sie werden von der Wirtschaft aufgestellt. Ein solches (Sport-)System kann aus heutiger Sicht kaum als positiv besetzt betrachtet werden.

Doch häufiger zeigt sich die Utopie als Leitbild bestehender Verhältnisse. Sie bestätigt also das vorherrschende Sportsystem: Rachel Phelps, die neue Besitzerin der „Indianer von Cleveland“[61], will nach Miami umziehen. Der Umzug mit der Major-League-Baseball-Lizenz ist ihr vertraglich nur gestattet, sofern weniger als 800 000 Zuschauer jährlich ins Stadion kommen. Daher heckt sie einen wunderlichen Plan aus: „Wenn wir schlecht genug spielen, müsste das doch zu bewerkstelligen sein.“[62] Ergo würfelt sie für die kommende Saison ein Team von „Versagern“ zusammen: Reifenhändler, Straftäter, ausgemusterte und körperlich stark angeschlagene Profis. Als die vom Plan der Chefin erfahren, sind sie geschockt. Der Trainer offenbart ihnen: „Nach dieser Saison werdet ihr zu den Amateuren zurückgeschickt oder schlicht und einfach entlassen.“ Um weiter im bezahlten Baseball spielen zu können, sieht Jake Taylor, Catcher des Teams, nur eine Chance: „Wir gewinnen die verdammte Meisterschaft, ganz einfach.“[63] Sie haben noch sechzig Spiele Zeit, um als Mannschaft über sich hinauszuwachsen — kein Problem. Als Literarische Utopien werden Geschichten bezeichnet, „die ausdrücklich als die realen Erwartungen übersteigernde Modelle verfasst sind“[64]. Demnach müssen sie also die Realität stark überzeichnen. Strenggenommen erfüllt obige Geschichte die Vorgabe zweifach: Eine Besitzerin möchte Cleveland des Wetters wegen verlassen. Irrwitziger kann ein Grund für einen Umzug wohl kaum sein. Angesichts der damit verbunden Kosten steht der Aufwand dazu in keinem Verhältnis. Überhaupt ist der Umzug mit einem Verein eine sehr utopische Idee: Man stelle sich vor, der FC Schalke 04 würde aufgrund des besseren Wetters nach Bayern umziehen! Noch irrwitziger, gemessen an der Realität, ist die Überlegung, dass man als Verantwortliche, selbst wenn man ein gewisses Ziel erreichen will, so einen Trümmerhaufen zusammenkauft. Sport genießt, wie ausgeführt, einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Der wirkliche Hinweis auf Utopie ist aber jener: Ein Haufen von Versagern, der eigentlich nicht mal das Format für die Minor-League hat, schafft nicht nur die Qualifikation („Wenn Sie die Play-Offs erreichen, wäre das ein verdammtes Wunder“, sagt der Manager zum reifenhandelnden Trainer[65]), er gewinnt auch die Meisterschaft. 



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Fußnoten

[26] „Geschichten über Sport“ ist eine Definition von Gunter Gebauer. Im weiteren Verlauf der Arbeit beschränken wir uns auf den Begriff „Geschichten“. Seine kursive Schreibweise verweist dann immer auf die Auslegung Gebauers.

[27] Gebauer, Gunter (1983): Geschichten, Rezepte, Mythen. Über das Erzählen von Sportereignissen, S. 129

[28] Ebd.

[29] Ebd.,  S. 130

[30] Pfeiffer, K. Ludwig: Tiger und Papiertiger: Zähmungsversuche von Sport und Literatur (1986), S. 10 (Hervorhebungen im Original)

[31] Ebd.

[32] Gebauer, Gunter (1983): Geschichten, Rezepte, Mythen. Über das Erzählen von Sportereignissen, S. 130

[33] Gebauer, Gunter: Der erzählte Sport; in: Fischer, Nanda (Redaktion): Heldenmythen und Körperqualen, dvs. Clausthal-Zellerfeld, 1988, S. 10

[34] Ebd. (Hervorhebungen im Original)

[35] Ebd., S. 8

[36] Ebd., S. 9

[37] Ebd., S. 10

[38] Ebd.

[39] Etwas mehr Input zu dieser Szene: „Nach einer halben Stunde Spielzeit  stand es 0:0 zwischen Germania Endsieg und KdF Paris, obwohl Schiedsrichter von Schlütz zwei unberechtigte Strafstöße gegen die KdF-Mannschaft verhängt hatte. [...] Als ich nahe der Mittellinie über den Ball stolperte, wollte der Schiedsrichter eine Tätlichkeit gesehen haben. Er verwarnte den unbeteiligten KdF-Torwart und entschied auf Siebenmeter. Da alle Regeln sowieso mit Füßen getreten wurden, missachtete ich das Gesetz, wonach der Gefoulte niemals selbst den Strafstoß ausführen soll. Ich schoss zwei Meter neben das Tor. 1:0! jubelte [...] der Schiedsrichter. (ebd., S. 19)

[40] Sous, Dietmar: Abschied vom Mittelstürmer, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH 1999, S. 2

[41] Des Englischen nicht mächtig, spricht Hein Keith’ Namen immer falsch aus.

[42] Sous, Dietmar (1999): Abschied vom Mittelstürmer, S. 97

[43] Gebauer, Gunter (1988): Der erzählte Sport, S. 16

[44] Pfeiffer, K. Ludwig (1986): Tiger und Papiertiger: Zähmungsversuche von Sport und Literatur, S. 4

[45] Krug, Gerhard (1972): Sport und moderne Literatur, S. 170

[46] Gebauer, Gunter (1983): Geschichten, Rezepte, Mythen. Über das Erzählen von Sportereignissen; S. 130

[47] Krug ist allerdings kein Verfechter des Sportromans und grenzt sein Wirkungsfeld ein. Er meint, dass die Symbolik des Sports nicht abendfüllend wäre.

[48] Vgl. Krug, Gerhard (1972): Sport und moderne Literatur, S. 170/171

[49] Krug, Gerhard (1972): Sport und moderne Literatu, S. 173

[50] Pfeiffer, K. Ludwig (1986); Tiger und Papiertiger: Zähmungsversuche von Sport und Literatur; S. 4

[51] Fischer, Nanda; Flügel eines großen bunten Vogels; in: Fischer, Nanda (Red.): Sport und Literatur, dvs, Clausthal-Zellerfeld, 1986, S. 52

[52] Gefunden im Internet: Sport1; http://www.sport1.de/coremedia/generator/www.sport1.de/ Events/Olympia2002/Eisschnelllauf/Berichte/Hintergrund/schnellstes_20eis_20der_20welt_20mel.html

[53] Claudia Pechstein verbesserte den bestehenden Weltrekord (6:52,44 Min.) von Gunda Niemann-Stirnemann in Salt Lake City über 5000 Meter auf 6:46,91.

[54] Fischer, Nanda (1986); Flügel eines großen bunten Vogels; S. 53

[55] Ebd., S. 54

[56] Ebd.

[57] Ebd.

[58]Ebd, S. 60

[59] Für Ronaldo begann damit eine enorme Leidenszeit. Von dem Zusammenbruch bei der Weltmeisterschaft erholte er sich  zunächst nicht mehr. Bei seinem Klub in Italien fiel er knapp zweieinhalb Jahre aufgrund diverser Knieverletzungen aus, ehe er pünktlich zur WM 2002 auf die große Bühne des Weltfußballs zurückkehrte.

[60] Nun könnte man diesem Argument entgegenhalten, dass die Gladiatoren die sportlichen Helden ihrer Zeit waren. Doch aus heutiger Sicht ist ein Sport, bei dem auch der Löwe Sieger sein kann, nicht unbedingt politisch korrekt. Sportler sind mehr als Austauschware. Vor einer Rückbesinnung auf solche Zustände will dieser Film warnen.

[61] Die Indianer von Cleveland, OT: Major League; Produktion Morgan Creek/Mirage, USA 1989, Verleih: Senator

[62] Ebd.

[63] Ebd.

[64] dtv-Lexikon, Band 19 (1995); S. 74

[65] Die Indianer von Cleveland (1989).



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