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3. 2. 3 Aufbaumuster-Typ: Kasus I

Vorab: Für das Aufbaumuster Kasus I ist die Unterscheidung zwischen etabliertem Sportler und Aufsteiger unerheblich. Der Kasus lässt sich unserer Meinung nach auf beide Motive anwenden. Der Kasus entstammt der Jurisprudenz und der katholischen Morallehre. Er formt die Welt unter einem besonderen Gesichtspunkt. Die Welt wird als ein durch Normen beurteilbares und wertbares System dargestellt. Die von Jolles eingebrachte Überlegung greift Gebauer in Bezug auf die Sportberichterstattung auf. Hier hat Gebauer den Kasus hauptsächlich in Berichterstattungen über Freizeitsport erkannt. Der Kasus lässt sich als Aufbaumuster auch auf Sportromane und Sportfilme anwenden. Und er ist hier nicht festgelegt auf die Erscheinungsform des Freizeitsports. Er zeigt zwei Systeme, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben. In dieser besonderen Erzählform werden „zwei Normen gegeneinander abgewogen.“[89] „Die konkurrierenden Normen regeln ein Verhalten; beide Normen führen, wenn sie verwirklicht werden, zu einem ganz unterschiedlichen, wenn nicht sogar entgegengesetzten Verhalten.“[90] Das entscheidende Element beim Aufbaumuster des Kasus I ist, dass der oder die Sportler Teil beider Systeme sind. Sie kommen innerhalb der Geschichte an den Punkt, an dem sie sich für eines dieser Systeme entscheiden müssen. Es ist im weitesten Sinn eine moralbedingte Entscheidung, die hier von den Protagonisten verlangt wird. Für dieses Aufbaumuster ist der Ausgang der Entscheidung unwichtig. Sie kann moralisch oder antonymisch dazu sein. Wobei darauf hingewiesen werden muss, dass die dargestellte Moral innerhalb der Geschichte auch schon antonymisch zur „realen Moral“ sein kann. In Theo Pointners Tore, Punkte, Doppelmord steht Dieter Heidtmann vor einer solchen Entscheidung. Er ist ein talentierter Fußballer, der vor dem Abschluss seines ersten Profivertrags steht. Dieter soll vom Amateurverein SV Rot-Weiß zum Bundesligisten Eintracht wechseln. Die Karriere lässt sich somit in die Form des „Aufsteigers“ einordnen. Dem Aufstieg zum Profi stehen allerdings die Pläne von Dieters Vater entgegen. Dieser ist Besitzer einer Schraubenfabrik, in der schon Dieters Opa das Zepter geschwungen hat und selbstverständlich soll die Firma auch weiterhin von Familienhand geführt werden. Vater Heidtmann hat es sich in den Kopf gesetzt, dass Dieter sein Nachfolger werden soll und beäugt dementsprechend kritisch dessen derzeitige Aktivitäten.

„In deinem Alter habe ich bereits in Vaters Betrieb den Vertrieb übernommen. Für Hobbys hatte ich keine Zeit, es gab genug Arbeit. Aber du hast es ja nicht nötig einen Finger krumm zu machen. Lieber auf der Uni faulenzen und beim Fußball den großen Held spielen. Vater zahlt ja.“[91]

Aus diesen Worten ist klar erkennbar, dass Dieters Vater zwei Interessen verfolgt. Er möchte, dass die eigene Firma weiterhin in Familienbesitz bleibt, und dass Dieter schnell in das Arbeitsleben einsteigt, sich in einem soliden Beruf sein Geld verdient und somit seine Existenz sichert. Das Studieren hält er für unsinnig und den Fußball akzeptiert er höchstens als Hobby. Dieters Interessen sind jedoch anders gelagert. Er hat schon immer davon geträumt, Fußballprofi zu werden und die Übernahme der väterlichen Firma spielt in seinen Zukunftsplänen auch keine Rolle. „Bei der Vorstellung, den Rest meines Lebens damit zu verbringen, Schrauben herstellen zu lassen und zu verkaufen, spielt meine Phantasie nicht mit. Begreift doch bitte, daß ich für mich etwas anderes vorziehe. “[92] Die konkurrierenden Systeme sind hier also durch ein bürgerliches, auf berufliche Zukunft orientiertes System einerseits, und ein auf Persönlichkeitsentwicklung (Traumverwirklichung) abzielendes System andererseits, gekennzeichnet. Berufliche Sicherheit steht dem ungewissen Wunsch, „das Hobby zum Beruf zu machen“ gegenüber. Konventionalität vs. Träumerei. Es ist selbstverständlich ein moderner Vater-Sohn-Konflikt. Dieter möchte sich selbst beweisen, dass er das Zeug dazu hat, sich in der Bundesliga durchzusetzen und nimmt dafür in Kauf, sich gegen seinen Vater zu stellen. Er muss sich sogar gegen seinen Vater stellen, da er gewissermaßen nicht zwei Herren dienen kann. Er entscheidet sich gegen den bequemen, konservativen und wesentlich leichteren Weg, der ihm im Familienbetrieb in Aussicht gestellt wird. Dieter entscheidet sich für die Selbstverantwortung und unterschreibt den Vertrag beim Bundesligaklub. Und im weitesten Sinn ist dies als moralische Entscheidung zu werten. Entgegen den Erwartungen setzt er sich auf Anhieb in der Bundesliga durch und wechselt sogar zu einem besseren Klub, als sein ursprünglicher Verein wegen Lizenzverstößen in die Amateurliga versetzt wird. Dieters Karriereverlauf zeigt, dass er durchaus Erfolg hat, auch ohne den väterlichen Normen und Wertvorstellungen zu folgen.    

Ähnlich ergeht es auch Junior Bevil in Cool Runnings. Allerdings wird hier der moralische Aspekt offensichtlicher in den Vordergrund gestellt: Junior ist der vierte Mann im ersten jamaikanischen Bob-Team. Dieses Team ist aus der Not geboren, da er zwei der vier Sportler bei der nationalen Ausscheidung für den olympischen 100-Meter-Lauf durch ein Missgeschick um die Teilnahme gebracht hat: „Wenn ich nicht gestolpert wäre, würden wir bereits zu den olympischen Spielen fahren.“[93] Vor seinem Vater Whitby Bevil Sr. muss er allerdings immer wieder seine sportlichen Ambitionen rechtfertigen. Juniors Teilnahme an den olympischen Winterspielen scheint zu scheitern, da der Vater ihm einen Makler-Job in Miami organisiert hat. Es kommt zu Unstimmigkeiten, in denen der Vater den Sport als Quatsch bezeichnet und auf die wirklichen Werte im Leben hinweist: „Wir waren uns doch einig, dass es langsam Zeit wird, dass Du Dich um Deine Zukunft kümmerst.“[94] In diesem System werden die Normen/Regeln vom Vater aufgestellt: Gehorsam, erwachsen werden und Verantwortung übernehmen sind die obersten Prinzipien. Befolgt Junior diese Normen, sind ihm väterliche Liebe und finanzielle Sicherheit gewiss. Auf der anderen Seite stehen Stolz, Ehre und Verantwortung gegenüber seinen Teamkollegen: Junior kann seinen drei Freunden und sich den Traum von Olympia erfüllen, gibt seinem Trainer Irv (der selbst erfolgreicher Bobpilot war, aber durch Betrug im olympischen Reigen in Ungnade gefallen ist) die Gelegenheit, sich zu rehabilitieren und hat die ehrenvolle Aufgabe, sein Land zu repräsentieren. Zunächst rebelliert er nur heimlich gegen das Elternhaus. Der Vater wähnt Junior in Miami, als er ihn auf einem Foto aus Calgary (Ort der olympischen Winterspiele 1988) in der Tagespresse entdeckt. Es kommt zu einem Eklat, der eine Entscheidung einfordert. Und die Entscheidung wird Junior abgenommen: Whitby Bevil Sr. sieht in seinem Sohn „einen kleinen, verwirrten Bengel, der Glück hat, dass sein Vater weiß, was das beste für ihn ist.“[95] Hier wird das restriktive Erziehungssystem so überzeichnet, dass Junior nur noch aus diesem System ausbrechen will. Er erkennt es als persönlichkeitsverachtend. Es provoziert praktisch die Entscheidung gegen den Vater und für das Sportsystem. Als Sportler übernimmt er Verantwortung. Tugendhaft lässt er seine Kameraden nicht im Stich, obwohl zu befürchten steht, dass sein Vater ihm die Bezüge streichen wird. Ehre, Gewissen und Versprechen werden hier höher bewertet als der „schnöde Mammon“, mit dem der Vater lockt.

Der Konflikt, der im Verlauf einer Sportgeschichte diese Entscheidung notwendig macht, muss aber nicht zwangsläufig durch eine andere Person provoziert werden. Wichtig für dieses Aufbaumuster ist, dass die Geschichte deutlich die jeweiligen Normen der beiden verschiedenen Systeme gegenüberstellt, wovon eines im Zusammenhang mit der Handlung als falsch oder minderwertig anzusehen ist. In den uns bekannten Sportfilmen und Sportromanen, die dem Aufbaumuster Kasus I zuzuordnen sind, wird die Auswirkung der Entscheidung, die in beide Richtungen gehen kann, nachgezeichnet. Für den Film Cool Runnings bedeutet das, dass sich Bevil jr. mit seiner Mannschaft für die Finalläufe qualifizieren kann. Zwar gewinnt das jamaikanische Bob-Team aufgrund eines Materialfehlers kein olympisches Edelmetall, aber der Respekt der Gegner ist ihm gewiss.



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Fußnoten

[89] Ebd.

[90] Ebd.

[91] Pointner, Theo: Tore, Punkte, Doppelmord; Grafit Verlag GmbH; Dortmund 1992; S. 31.

[92] Ebd.

[93] Cool Runnings; USA 1993, Walt Disney.

[94] Ebd.

[95] Ebd.



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